I:Rez (Thema)


Ein Mann seiner Klasse. Von Christian Baron   Claassen Verlag   ISBN 978-3-546-10000-7

Kehrt der Klassenkampf zurück auf die politische Agenda? Eher nicht. Gleichwohl fällt auf, dass in letzter Zeit soziale Fragestellungen wieder verstärkt in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur auftauchen. Das sicherlich Bemerkenswerteste unter diesen Büchern ist das autobiographische Roman-Debüt des Freitag-Journalisten Christian Baron. In unverkünstelter, genauer und packender Sprache erzählt Baron von (s)einer Kindheit und Jugend in Kaiserslautern, vom Leben und Überleben in einer Familie mit einem prügelnden Vater und einer depressiven Mutter. Er verzichtet auf jegliche Verklärung der Tristesse und Gewalt, enthält sich jeglicher Gefühlsduselei und schafft doch eine emotional dichte und mitreißende Milieustudie.


Stern 111. Von Lutz Seiler   Suhrkamp   ISBN 978-3-518-42925-9

Mit Lutz Seilers Roman geht es zurück in das erste wilde Jahr nach dem Mauerfall. Wir tauchen mit seiner Hauptfigur Carl Bischoff ein in das (Ost-) Berlin des Jahres 1990, in der noch alles möglich schien und alle Utopien geträumt werden durften. Carl kommt aus der Thüringer Provinz, will Dichter werden und schließt sich einer Gruppe junger Leute, dem „klugen Rudel“ an. Gemeinsam nehmen sie leerstehende Wohnungen und Häuser in Beschlag, bauen einen Gewölbekeller um zur Kneipe „Assel“, betreiben diese mit großem Erfolg und lassen so ihre Träume von politischer Freiheit praktisch werden.


Rebell im Maßanzug. Leonhard Frank. Die Biographie   Aufbau Verlag   ISBN 978-3-351-03724-6

Endlich. Die erste seriöse Biografie über Leonhard Frank. Die Germanistin Katharina Rudolph hat über das Leben des Würzburger Autors promoviert und anhand zahlreicher neuer Quellen ein anschauliches und flüssig zu lesendes Lebenspanorama vorgelegt. Sie schließt viele Lücken im unsteten Leben Franks und spannt den Bogen von Kindheit und Jugend in Würzburg über die Jahre in München und Berlin, die Exilzeit in der Schweiz und in den USA bis zur Rückkehr ins geteilte Deutschland und die nachfolgende verzweifelte Suche nach einem Platz zwischen Ost und West.


Der letzte Satz. Von Robert Seethaler.   Roof Music   ISBN 978-3-86484-657-1

Gustav Mahler befindet sich an Deck eines Schiffes auf der Reise von New York zurück nach Europa. Ein Schiffsjunge bringt ihm Tee, er soll sich um diesen Mann kümmern, der dort so traurig sitzt und er fragt ihn nach seiner Musik, aber der große Komponist erzählt dem Jungen von seinen Erinnerungen, über die Zeit in Wien und wie viel Anstrengung es ihn gekostet hat, dort zu arbeiten und die Musiker zu Höchstleistungen anzuspornen. Er erzählt von seiner Tochter und ihrem frühen Tod und was das mit ihm und seiner Ehe mit Alma, seiner großen Liebe, gemacht hat. Dass Alma und er sich daraufhin immer mehr voneinander entfremdet hatten, bis Alma sich in Gropius verliebte, diesen eingebildeten Schnösel.


Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste. Von Thomas Hettche   Kiepenheuer & Witsch   ISBN 978-3-462-05256-5

Jeder kennt die Augsburger Puppenkiste, aber nicht das Urmel oder der Gestiefelte Kater, nicht Jim Knopf oder Bill Bo sind die Hauptfiguren dieses Buches, sondern die Familie Oehmichen, die hinter dem Mythos der Marionetten steckt, jene Menschen, die sich am anderen Ende der Fäden befinden.

Der Begründer der Puppenkiste Walter Oehmichen, der Oberspielleiter des Augsburger Theaters war, lernte im Krieg das Schnitzen und baute nach dem Krieg das Provisorium mit den hölzernen Türen aus Teilen einer Transportkiste der Deutschen Reichsbahn. Oehmichen wurde nicht entnazifiziert, weshalb er nicht ans Theater zurückkonnte und außerdem war er mittlerweile dem Reiz der Marionetten erlegen. Es geht in dem Roman nicht darum eine dunkle Seite in seinem Leben zu finden, aber natürlich wurzelte die Puppenkiste, die zu einem heißgeliebten Symbol der frühen Bundesrepublik wurde, wie vieles in den Jahren des Neubeginns nach 1945 im „Dritten Reich“.


Lutz Geißlers Almbackbuch. Die besten Brotrezepte und -geschichten von der Kalchkendlalm. Aus Liebe zum Brot. Von Lutz Geißler   Eugen Ulmer Verlag   ISBN 978-3-8186-1130-9

Das neue, wunderbar dicke Buch des aktuellen Brot-Gurus Lutz Geißler ist ein opulentes Werk, das über das gewohnte Brotbackbuch hinaus geht. Außer dem wirklich stattlichen Rezeptteil, der keine Brot- und Brötchenwünsche offen lässt, erzählt Lutz Geißler von der Kalchkendlalm in den nördlichen Kalkalpen, wo er viele Backkurse gibt und Rezepte entwickelt hat.


Ich an meiner Seite. Von Birgit Birnbacher   Zsolnay Verlag   ISBN 978-3-552-05988-7

Die österreichische Autorin ist Soziologin und schreibt aus der professionellen Perspektive absolut überzeugend über den 22-jährigen stillen und intelligenten Arthur, der nach 2 Jahren aus dem Gefängnis kommt. Schnell stellt er fest, dass die Rückkehr in die Gesellschaft fast unmöglich ist, nachdem er ihr wegen Internetbetrügereien zwangsweise den Rücken zukehren musste. Zuerst lebt er in einer Haftentlassenen-WG und wird Teil einer wissenschaftlichen Resozialisierungsstudie, in deren Zusammenhang er eine Therapie macht. Arthur soll versuchen eine Idealbesetzung seiner selbst zu entwerfen bzw. eine Art inneres Leitbild erstellen. Seine Gedanken im Zusammenhang mit den gestellten Aufgaben soll er auf Band sprechen. Es sind diese Aufnahmen, die ihn uns näherbringen, in denen wir ihn – wie sein schräger Therapeut - auf eine immer leicht distanzierte Art kennenlernen.

Cloris. Von Rye Curtis   C.H.Beck   ISBN 978-3-406-75535-4

Mit einer zeitlichen Distanz von 20 Jahren erzählt die Ich-Erzählerin Cloris von jenem unvergesslichen Spätsommer 1986 als sie (damals schon über 70) mit ihrem Mann auf dem Weg in einen Kurzurlaub mit einer Cessna über ein großes Waldgebiet, die Bitteroot Mountains, flog und abstürzte. Der Pilot und Mr. Waldrip überleben den Absturz nicht, sie selbst wird nur leicht verletzt. Cloris kann noch einen Notruf in den Äther schicken, bevor das Funkgerät den Geist aufgibt. Die zweite Hauptfigur ist die geschiedene Forest Rangerin Debra Lewis, die seit 11 Jahren in dieser Gegend in einer Hütte im Wald lebt und von dort aus ihr Revier überwacht. Ihr Kollege Claude und dessen Freund Pete sind die einzigen Menschen weit und breit. Debras Mann hatte außer ihr noch 3 Ehefrauen in anderen US-Bundesstaaten, was ihr Selbstwertgefühl stark beschädigt hat und ihr immer wieder zu schaffen macht.


Kalmann. Von Joachim B. Schmidt   Diogenes   ISBN 978-3-257-07138-2

„Ich kann nicht schnell laufen und auch nicht Pingpong spielen und früher wusste ich nicht mal, was ein IQ ist. Großvater wusste es zwar, aber er sagte, das sei nichts als eine Zahl, um Menschen in Schwarz und Weiß einzuteilen, eine Messmethode wie Zeit oder Geld, eine Erfindung der Kapitalisten, dabei seien wir alle gleich, und dann verstand ich überhaupt nichts mehr, und Großvater erklärte mir, dass nur das Heute zähle, das Hier, das Jetzt, das Ich, hier mit ihm. Fertig. Das verstand ich.“

Das sagt Kalmann über sich selbst; er ist 33 und lebt im Norden Islands in dem nur 173 Einwohner zählenden Raufarhövn. Er ist Polarfuchsjäger, Haifischfänger und außerdem selbsternanter Sheriff des Ortes. Kalmann ist das, was man „lernbehindert“ nennt, oder in anderen Worten: Kalmann ist auf der Stufe eines Kindes stehen geblieben. Alles was er weiß oder kann, hat er von seinem Großvater oder seinem besten Freund Noi erfahren.

Offene See. Von Benjamin Myers   DuMont Buchverlag ISBN 978-3-8321-8119-2

Gerade ausgezeichnet als »Lieblingsbuch der Unabhängigen« 2020! Das ist ein deutscher Literaturpreis der seit 2015 im Rahmen der Woche unabhängiger Buchhandlungen verliehen wird und bei dessen Wahl inzwischen über 700 unabhängige Buchhandlungen teilnehmen.

Die Geschichte beginnt 1946 in Durham, einem düsteren, trostlosen Bergarbeiterörtchen im Nordosten Englands.

Robert ist sechzehn und weiß, dass das Ende der Schulzeit bedeutet, dass er fortan sein Leben in der Zeche zubringen wird. Wie sein Vater, sein Großvater und weitere Generationen an Männern vor ihnen, wird er sich als Bergarbeiter verdingen. Doch die Vorstellung, immerzu von Enge und Dunkelheit umfangen zu sein, erfüllt ihn mit Grauen. Robert möchte stattdessen in die Natur, sehnt sich danach, das Meer zu sehen. Und so beschließt er bis zum Eintritt in die Zeche auf Wanderschaft zu gehen.