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Halber Löwe. Von Johannes Herwig. Rezension von Britta Kiersch
Halber Löwe. Von Johannes Herwig Gerstenberg Verlag ISBN 978-3-8369-6205-6
Für Sascha beginnt das letzte Schuljahr und damit natürlich die Frage: Was kommt danach? Er und seine drei Freunde haben sich in einem Abbruchhaus so eine Art Clubraum eingerichtet. Hier hängen sie ab, quatschen, rauchen, saufen und kiffen. Hier schmieden sie aber auch ziemlich krasse Pläne, denn bei ihnen ist es üblich, dass in regelmä0igen Abständen eine Aktion läuft. Da wird schon mal ein Auto geknackt, was geklaut oder eine Rauchbombe im Schulhof gezündet. Sie überschreiten Grenzen, sie können sich aufeinander verlassen, aber sie sind nicht immer einer Meinung.
Sascha genießt das Gefühl, zu ihnen zu gehören, einen Ort und eine Gruppe außerhalb seiner kleinen Familie zu haben. Der Junge lebt mit seiner kleinen Schwester Jacky und seiner Mutter, einer Krankenpflegerin, in beengten Verhältnissen. Sein Vater ist jung durch einen Unfall gestorben, so dass er kaum Erinnerungen an ihn hat und ihn oft vermisst. Insgeheim hegt Sachsa seinen Hass auf den Verursacher des Unfalls, er hat ihm auch nach all den Jahren noch nicht wirklich vergeben. Dann kommt Marcel in Saschas Klasse und die beiden freunden sich an. Marcel ist ein schmaler und irgendwie untypischer Junge, aber Sascha mag ihn und nimmt ihn bald darauf mit zu seinen Freunden. Er möchte, dass Marcel ein Teil der Clique wird. Doch bei Marcels „Mutprobe“ zum Einstand passiert etwas Entsetzliches, mit dem niemand gerechnet hat.
Besonders interessant finde ich, welch komplexes und facettenreiches Bild der Autor von seiner Hauptfigur zeichnet. Dieser Junge ist einerseits ein liebevoller großer Bruder, der sich einfach sensationell um seine kleine Schwester kümmert und seine Mutter unterstützt, wenn sie ihn braucht. Er hinterfragt das gar nicht, stellt sich nicht in den Vordergrund, sondern ist da und kümmert sich, wenn seine Mutter arbeiten muss oder einfach mal eine Pause braucht.
Er versucht auch, seiner Mutter und Jacky zuliebe, nett zu Carsten (Jackys Vater und der Ex seiner Mutter) zu sein. Im Gegensatz dazu steht Saschas andere Seite, wenn er mit seinen Freunden abhängt, viel zu viel trinkt und gemeinsam mit ihnen ohne Sinn und Verstand krumme und gefährliche Dinger dreht und, wie schon gesagt, die Grenzen des Machbaren auslotet. Dabei spielt natürlich der fehlende Vater eine wichtige Rolle. Man kann die Lücke nachfühlen, die Saschas Leben prägt, mit der er immer wieder ringt. Seine Mutter gibt ihr Bestes, sie wertschätzt ihren Sohn, steht immer hinter ihm und ermuntert ihn zu reden, immer über alles Wichtige zu reden. „Wenn wir nicht mehr miteinander reden, können wir einpacken“, sagt sie sinngemäß im Buch und gibt ihrem Sohn dadurch den Impuls, das Richtige zu tun.
Sascha macht eine grundlegende Entwicklung durch und seine Konsequenz sprengt dann zwar die Gruppe, aber führt ihn zu sich selbst. Dies ist Johannes Herwigs drittes Buch bei Gerstenberg und nachdem ich auch die beiden anderen gelesen habe, kann ich sagen: Dieses ist in meine Augen das ausgereifteste. Es ist auf eine besondere und stimmige Art männlich und wunderbar verortet in der Nachwendezeit in Ostdeutschland. Er veranschaulicht die Tiefen einer jugendlichen Psyche auf sehr kluge Art und mit viel Sachverstand. Mir hat unglaublich gut gefallen, wie der Junge lernt, auf sein Gefühl und sein Gewissen zu hören, und dem auch die Freundschaft zu den anderen unterordnet, nicht einem Gruppenzwang nachgibt, sondern zu sich und seine Überzeugungen steht. Was danach kommt, wird sich zeigen.
→ Halber Löwe. Von Johannes Herwig
Erstellt: 21.03.2023 - 06:49 | Geändert: 21.03.2023 - 06:59