Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste. Von Thomas Hettche. Rezension von Britta Kiersch

REZENSION 
Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste. Von Thomas Hettche   Kiepenheuer & Witsch   ISBN 978-3-462-05256-5

Jeder kennt die Augsburger Puppenkiste, aber nicht das Urmel oder der Gestiefelte Kater, nicht Jim Knopf oder Bill Bo sind die Hauptfiguren dieses Buches, sondern die Familie Oehmichen, die hinter dem Mythos der Marionetten steckt, jene Menschen, die sich am anderen Ende der Fäden befinden.

Der Begründer der Puppenkiste Walter Oehmichen, der Oberspielleiter des Augsburger Theaters war, lernte im Krieg das Schnitzen und baute nach dem Krieg das Provisorium mit den hölzernen Türen aus Teilen einer Transportkiste der Deutschen Reichsbahn. Oehmichen wurde nicht entnazifiziert, weshalb er nicht ans Theater zurückkonnte und außerdem war er mittlerweile dem Reiz der Marionetten erlegen. Es geht in dem Roman nicht darum eine dunkle Seite in seinem Leben zu finden, aber natürlich wurzelte die Puppenkiste, die zu einem heißgeliebten Symbol der frühen Bundesrepublik wurde, wie vieles in den Jahren des Neubeginns nach 1945 im „Dritten Reich“.

Das Buch beginnt nach einer Vorstellung. Ein Mädchen öffnet neugierig eine unauffällige Holztür im Theaterfoyer und betritt eine fremde, magische Welt. Denn auf dem Dachboden des Gebäudes befinden sich alle Marionetten, dort sind sie lebendig, können umherlaufen und sprechen. Auch ihre Schöpferin Hatü ist dort. So wurde Hannelore genannt, die jüngere Tochter der Oehmichens, die in die Puppenbühne hineinwuchs und 1972 deren Leitung übernahm. Real ist Hatü 2003 gestorben, aber auf dem Dachboden im Buch lebt sie weiter inmitten ihrer Geschöpfe, so als ob sie eine von ihnen wäre, denn auf dem Dachboden sind alle gleich klein, auch das Mädchen ist geschrumpft. Es gibt einen bösen Kaspar, den alle fürchten. Er muss bezwungen, bzw. erlöst werden. Was in der Zauberwelt des Dachbodens geschieht ist in roter Farbe gesetzt, die Geschichte, die Hatü ihrer Besucherin erzählt, ist in blau und das ist der eigentliche „Roman der Augsburger Puppenkiste“ der 1939 mit der Einberufung Oehmichens beginnt und mit der Produktion von „Jim Knopf“ für den Hessischen Rundfunk endet. Mit dieser ersten deutschen Serie wurde Fernsehgeschichte geschrieben. Die Rahmenhandlung auf dem Dachboden endet mit der Rückkehr des Mädchens in die reale Welt.

„Wir müssen die Herzen der Jugend erreichen, die von den Nazis verdorben wurden. Und die Fäden, mit denen wir sie wieder an Kultur anknüpfen, das sind die Fäden meiner Marionetten.“ Das sagt Oehmichen zu einigen jungen Leuten – der künftigen Familie der Puppenbühne –, als er ihnen sein Konzept des transportablen Theaters vorstellt. Und Hettche macht deutlich, um was es ihm meiner Meinung nach geht: Wie schaffte es die deutsche Jugend, verdorben durch HJ und BDM sich moralisch zu reinigen, sich frei zu machen von der Infiltration? Das ist die Frage, die sich den Oehmichens stellte, auch was sie selbst anging. Nicht umsonst zitiert auch Hettche den Satz aus einer Hitler-Rede: „Und sie werden nicht mehr frei sein, ihr ganzes Leben“, der Hatü durch den Kopf geht, als sie einmal über ihren Vater und seine Überzeugungen nachdenkt.

Hettche beschreibt auf einmalige Weise, die Zeit des Aufbruchs, den Neuanfang und den Zwiespalt, in dem sich die Menschen befanden und nicht nur deshalb finde ich sein Buch sehr bedeutend. Immerhin sind mit den Geschichten und der Ästhetik der Puppenkiste bis in die Gegenwart ganze Generationen von Westdeutschen sozialisiert worden. Er versucht tief in den Grund der alten Bundesrepublik einzutauchen, an der Fassade zu kratzen. Nicht umsonst ist da Hatüs böser Kasperl auf dem Dachboden, der Angst und Schrecken verbreitet, als übergeordnete Figur, in der ebenso viel Verdrängtes steckt, wie in der ganzen Augsburger Puppenkiste. Eindringlich und elegant verbindet Thomas Hettche diese beiden Erzählebenen und hat einen manchmal nostalgischen, aber auch beunruhigenden Roman geschrieben, der einen besonderen Zauber entfaltet.

Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste. Von Thomas Hettche

 

Erstellt: 02.12.2020 - 07:47  |  Geändert: 19.02.2021 - 15:26