Schnabeltier Deluxe. Von Sarah Jäger. Rezension von Britta Kiersch

REZENSION
Schnabeltier Deluxe. Von Sarah Jäger   Rowohlt Verlag   ISBN 978-3-499-00911-2

„Ich schaue aus dem Fenster des Lehrerzimmers, schaue auf die fliegende Kaffeemaschine und denke, dass ich mir die Sache mit dem Urknall genau so vorgestellt habe.“ Wie in ihrem Debüt-Roman „Nach vorn, nach Süden“ wählt die Autorin auch in ihrem neuen Buch die Perspektive ihrer jugendlichen Hauptfigur. Kim hat unkontrollierbare Wutanfälle und nach der Sechs im Physiktest musste halt die Kaffeemaschine der Lehrerin dran glauben. Daraufhin fliegt sie von der Schule, muss mit ihrer Mutter zu einem Beratungsgespräch ins Schulamt, aber das läuft auch nicht so toll.

In der Hoffnung, dass Kim in der ländlichen Idylle wieder in die Spur kommt, wendet sich ihre Mutter daraufhin an René, ihren Ex-Freund, der jetzt in einem kleinen Dorf mit seiner Tante lebt. Der Schuldirektor ist ein Sandkastenfreund von ihm und tut ihm den Gefallen, Kim aufzunehmen. Nach einem weiteren Tobsuchtsanfall, bei dem sogar ihre Mutter leichten Schaden nimmt, zieht Kim zu René und der Tante, erstmal für ein Jahr, um wenigstens die zehnte Klasse zu machen, bis sich die Gemüter wieder beruhigt haben.

Was Kims Mutter hofft, nämlich dass ihre Tochter in der neuen Umgebung wieder in die Spur findet und ihre Aggressionen besser in den Griff bekommt, tritt auch erst einmal ein. Aber „wenn die Regeln immer die anderen machen, ist es doch kein Wunder, dass man sich ständig irgendwo stößt“. So ist Kim nun mal: Ihr wird es schnell zu nah und zu eng, sie fühlt sich leicht entmündigt, bevormundet, falsch verstanden, und sie verliert zu schnell die Kontrolle über sich. Aber sie hat auch gute Seiten. Weil sie die Mutter bei der Schadensregulierung finanziell unterstützen will, sucht und findet sie einen Job in der Tankstelle. Der Besitzer, den sie für einen Motorschrauber hält, entpuppt sich später als relativ erfolgreicher Künstler mit Menschenkenntnis. In der Tanke lernt Kim Janne mit dem Haarreif kennen, der als Friseurlehrling im väterlichen Betrieb in fünfter Generation das Handwerk lernt. Mit Janne fühlt sie sich wohl und es entsteht tatsächlich eine Freundschaft. Schon bald sind sie zu dritt, denn Alex(andra Sophie) schließt sich den beiden an. Sie war die Freundin von Jannes älterem Bruder, bis der zum Studieren wegging und Janne versucht seit einem Jahr erfolglos, mit ihr zusammenzukommen. Zu dritt gehen sie joggen, zu dritt quatschen sie, es geht ihnen gut. Bis Kim irgendwann doch wieder ausrastet. Aber jetzt muss sie über sämtliche Schatten springen, wenn sie das Dreigestirn retten will.

Sarah Jäger schreibt Bücher, die einem einfach so „reinlaufen“, die man „sich in einem Rutsch reinziehen“ will. Ich stehe sehr auf ihren bissigen Humor. Dass Janne Kim aus alten Zeitschriften vorliest (Backrezepte, Strickanleitungen oder Tierportraits), finde ich wunderbar. Hauptsache, sie hört seine Stimme, kann sich fallen lassen und mal kurz wegnicken. Das hat so was schön Vertrautes. Oder wie sie mit sehr wenigen Sätzen die Beziehung zwischen Kim und Renés griesgrämiger Tante skizziert und deren Entwicklung auf den Punkt bringt, ist sensationell. Spätestens jetzt wird jeder Kim lieben, obwohl sie echt gestört ist.

Und auch das gefällt mir: Der Roman ist vorwärtsgerichtet, Vergangenheit wird nicht aufgearbeitet, Kim fragt sich nie „warum nur bin ich so“, sondern immer „was kann ich machen“ und „wie kann es für mich weitergehen“. So tastet sie sich an sich selbst und die anderen heran, fängt an, anderen über den Weg zu trauen, indem sie lernt, sich selbst realistisch einzuschätzen. Das ist einleuchtend und überzeugend geschrieben.

→  Schnabeltier Deluxe. Von Sarah Jäger

 

Erstellt: 15.10.2022 - 06:37  |  Geändert: 15.10.2022 - 06:41