Flucht aus der Geschichte?
Die russische und die chinesische Revolution heute

Edition Marxistische Blätter 105. Was der Autor vormals in zwei Flugschriften * unserer Zeitschrift „Marxistische Blätter“ um die Jahrtausendwende veröffentlicht hat, wurde von ihm überarbeitet, aktualisiert und erweitert. Grund für uns, daraus ein Taschenbuch zu machen. Denn sein Anliegen ist und bleibt für heutige Kommunisten hochaktuell: sich der eigenen Geschichte kritisch bilanzierend stellen und daraus neue Kraft für kommunistische Identität schöpfen.

ISBN 978-3-910080-72-0 2. Auflage 2009 vergriffen Mehr Infos (Buch) → d-nb.info

Dazu der Autor in seinem Vorwort: „1818, mitten in der Restaurationszeit und zu einem Zeitpunkt, da das Scheitern der französischen Revolution offenkundig schien, gingen auch jene, die das 1789 Begonnene anfangs begrüßt hatten, auf Distanz: es war für sie nun ein kolossales Missverständnis oder, schlimmer, ein schändlicher Verrat edler Ideale. Müssen wir diese Verzweiflung heute zu der unseren machen, wobei dann nur 1789 durch 1917 und die „Sache der Freiheit“ durch die Sache des Sozialismus zu ersetzen wäre? Müssen sich die Kommunisten ihrer Geschichte schämen?

In der Geschichte verfolgter ethnischer oder religiöser Gruppen begegnet uns eine merkwürdige Erscheinung. An einem gewissen Punkt neigen auch die Opfer dazu, sich den Standpunkt der Unterdrücker zu eigen zu machen, und beginnen deshalb, sich selbst zu verachten und zu hassen… Doch das Phänomen des Selbsthasses betrifft nicht nur ethnische und religiöse Gruppen. Es kann auch bei sozialen Klassen und politischen Parteien nach einer schweren Niederlage auftreten, vor allem wenn die Sieger, sobald die eigentlichen Waffen beiseite gelegt oder in den Hintergrund getreten sind, an ihrer tödlichen, heute durch das multimediale Feuer verstärkten Kampagne festhalten. Unter den vielen Problemen, mit denen die kommunistische Bewegung zu kämpfen hat, ist das des Selbsthasses gewiss nicht das geringste… 

Unglücklicherweise fasst der Selbsthass auch in den Reihen jener Fuß, die sich zwar weiterhin Kommunisten nennen, aber entschieden jeglichen Gedanken zurückweisen, sie könnten irgend etwas zu tun haben mit einer Vergangenheit, die für sie, wie für ihre politischen Gegner, geradezu ein Synonym für Verkommenheit darstellt. Der aufgeblasene Narzissmus der Sieger, die ihre eigene Geschichte verklären, findet so sein Gegenstück in der Selbstgeißelung der Besiegten. Es versteht sich von selbst, dass der Kampf gegen die Plage des Selbsthasses desto wirksamer sein wird, je radikaler und vorurteilsfreier die kritische Bilanz der großen und faszinierenden Epoche ausfällt, die mit der Oktoberrevolution eingeleitet wurde.

Doch ungeachtet ihrer Assonanz sind Selbstkritik und Selbsthass gegensätzliche Haltungen. Die Selbstkritik drückt, bei aller Schärfe und sogar Radikalität, das Bewusstsein der Notwendigkeit aus, sich der eigenen Geschichte zu stellen; der Selbsthass aber ist die feige Flucht vor dieser Geschichte und vor der Realität des ideologischen und kulturellen Kampfes, der in dieser Geschichte aufscheint.

Wenn Selbstkritik die Voraussetzung dafür ist, kommunistische Identität wiederzugewinnen, dann ist Selbsthass das Synonym für Kapitulation und Verleugnung einer autonomen Identität.

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Inhaltsverzeichnis

Gegen linken Selbsthass: In der Zeitschrift iz3w war über die Politik der Sandinisten in Nicaragua zu lesen: „Aber Ortegas Verrat ist eine politische Tragödie für alle, die auf der ganzen Welt ihre Hoffnung auf eine partizipatorische Demokratie in Nicaragua setzten.“1 Da ist er also wieder, der Verratsvorwurf, der regelmäßig an die Stelle einer nüchternen politischen Bewertung tritt. Dieses Denken ist in der Linken noch immer nicht überwunden. Und so gilt auch Leo Trotzkis Werk „Die verratene Revolution“ weiterhin als ein Schlüsselbuch zur Deutung der Geschichte der Sowjetunion. Für den italienischen Historiker und Philosophen Domenico Losurdo gehört aber dieses Denken in Kategorien des „Verrats“ überwunden. Erst dann kann sich die Linke ein realistisches Bild von den Erfolgen und den Niederlagen des Sozialismus machen. Von Andreas Wehr Z. 03.2010

Losurdo, Gossweiler und das System der Arbeit in der Sowjetunion: Die junge welt hat vom 15.-23.03.2000 eine Studie des italienischen Kommunisten Domenico Losurdo über den Untergang des Sozialismus abgedruckt (“Flucht aus der Geschichte? Die kommunistische Bewegung zwischen Selbstkritik und Selbsthass”), (...). Hierzu hat der Historiker Kurt Gossweiler “Kritische Anmerkungen” geschrieben, die sich in Ausgabe 24 der Zeitschrift Streitbarer Materialismus finden (...). An zentraler Stelle steht bei Losurdo die Kritik, daß im Sozialismus ein idealistisches Verhältnis zur Arbeit vorherrschte, welches “das Ende nicht nur des Staates, sondern auch der Arbeitsteilung, in Wirklichkeit der Arbeit selbst voraus(setzte), und letzten Endes das Verschwinden jeglicher Form von Macht und Pflicht.” Dieses utopische Verständnis ist seines Erachtens auf Marx und Engels zurückzuführen und hatte letztlich das Scheitern des ersten Anlaufs zum Sozialismus zur Konsequenz. Gossweiler weist den Vorwurf an Marx und Engels zurück, (...). Von Heiner Karuscheit offen-siv.net

Domenico Losurdo, Prof. Dr. phil., 1941-2018, war Präsident der Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken und Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. Zahlreiche Bücher, so über Hegel, Nietzsche, Gramsci oder Stalin, begründeten sein Renommee als international einflussreicher Philosoph und Historiker.

Wikipedia (DE): Domenico Losurdo

„Der marxistische Philosoph Domenico Losurdo und seine Haltung zu China“ - Vortrag von Andreas Wehr
Deutsch-Chinesischer Freundschaftsverein e.V. YouTube (01.10.2023)

Erstellt: 17.06.2025 - 17:25  |  Geändert: 20.06.2025 - 15:18