Libyen
Vom Kolonialismus zur Grenzmiliz Europas
Der Politikwissenschafter und Sozial- und Kulturanthropologe Thomas Schmidinger, der Libyen zwischen 1996 und 2025 mehrmals bereist und unter teils schwierigen Bedingungen im Land geforscht hat, beschreibt nicht nur die jüngste Phase europäisch-libyscher Kooperation, sondern auch die internen Konflikte und die besonders blutige Geschichte des italienischen Kolonialismus, die bis heute Nachwirkungen hat. Sein Buch gibt vielfältige Einblicke in ein fragmentiertes Land, das zwischen lokalen und geopolitischen Interessen zerrissen ist.
Libyen führt generell ein Schattendasein in der Berichterstattung über Nordafrika und den Mittleren Osten. Das relativ bevölkerungsarme Land, in dem nur ein kleiner Küstenstreifen Landwirtschaft erlaubt, spielt allerdings trotz seiner peripheren Lage immer wieder eine wichtige Rolle in der nordafrikanischen und europäischen Politik. Zuletzt kam Libyen v.a. in den Fokus der europäischen Flüchtlingsbekämpfungspolitik. Während sich in Libyen rivalisierende Regierungen und Milizen bekämpfen, kooperiert die EU mit genau diesen Gewaltunternehmern, um Wege von Flüchtlingen und Migranten durch die Sahara und das Mittelmeer zu blockieren.
Rezension
Thomas Schmidinger unternimmt in seinem neuen Buch eine intensive, beeindruckend detaillierte und zugleich eingängig formulierte Reise durch die jüngere Geschichte Libyens. Sie beginnt mit einem Überblick über die enorme ethnolinguistische Vielfalt der libyschen Gesellschaft und einem Abriss der Zeit als Randprovinz des Osmanischen Reiches. Darauf folgt eine eindringliche Schilderung der italienischen Kolonialherrschaft (1911–1943) und der durch sie bewirkten systematischen Entvölkerung: ein Genozid, der sich in das kollektive Gedächtnis der Libyer:innen als »Schar« (arabisch: شر, »das Böse«) eingebrannt hat. Von Sophie Reichelt tagebuch.at 12.2025
Autoreninfos
Erstellt: 17.12.2025 - 09:49 | Geändert: 17.12.2025 - 10:08
