Kritik des Familismus
Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes

Familismus bezeichnet die weitgehende Identität von Familie und Gesellschaft. Danach bildet das System aller Familien das Gemeinwesen. Familismus ist auch die Überbewertung des familiären Bereichs als Quelle für soziale Kontakte. In familistischen Gesellschaften - dazu gehört die Bundesrepublik Deutschland - gilt die Familie als Dreh- und Angelpunkt aller sozialen Organisationen.
Selbst in das in frauenpolitischer Hinsicht fortschrittliche Grundgesetz für die BRD wurde 1949 der Familismus eingeschrieben, indem die Auffassung von der Familie als wichtigster Baustein einer Gesellschaft aufgenommen wurde und somit eine konservative Familienideologie, die Frauen und Männern eindeutige Rollen zuwies und die bis heute wirkt, verfestigt wurde.
Erst die neue Frauenbewegung entwickelte Gegenkonzepte, die heute allerdings zu verblassen scheinen. Staatliche Familienpolitik fördert nach wie vor die traditionelle mit Vater, Mutter und Kind(ern) «normalbesetzte» Kleinfamilie in der Kinder erzogen und pflegebedürftige Menschen versorgt werden sollen. Die soziale Realität hat sich längst von diesem ideologischen Gemälde entfernt.
In der Einführung geht es zunächst um eine historische Rekonstruktion exemplarischer Theorien und Praxen, die zu jenem ideologisierten Familienverständnis führen, das auf das «Gemeinwohl» abzielt, faktisch aber alle Menschen ausschließt, die nicht zu einer Familie gehören und Frauen zu rechtlosen Wesen macht. Am Ende steht die Frage, ob es sinnvoll ist, ein kritikwürdiges System weiter auszuweiten, indem sich häufende Zusammenlebensformen durch vom Staat verordnete Gesetze «normalisiert» werden und damit wiederum andere daran gemessen und ausgegrenzt werden, wenn sie sich nicht in die familiale «Ordnung» fügen.
Verdammt zum Leben in der ‚Rama-Frühstücksfamilie’: (...) Mit „Kritik des Familismus. Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes“ hat die Sozialwissenschaftlerin und nunmehr schon seit vielen Jahrzehnten politisch aktive Feministin Gisela Notz eine Publikation in der Reihe theorie.org vorgelegt, die sich kritisch mit dem bundesdeutschen Familienbild auseinandersetzt. Mit ihrer Streitschrift, die von einer familistisch geprägten Machtstruktur ausgeht, liefert die Autorin damit nicht nur eine verständlich geschriebene Zusammenfassung wesentlicher sozialhistorischer und politischer Entwicklungen sowie öffentlich geführter Diskurse, die die äußerst persistente und – so Notz – ideologisch aufgeladene Figur der „heteronormative[n] monogame[n] Kleinfamilie mit verheirateten Eltern“ (2017: 196, Anmerk. d. A.) stützen und gestützt haben. Sie legt darüber hinaus auch eine grundsätzliche Kritik am Familismus – als einer allgemeinen „Überbetonung der familialen Ordnung“ (ebd.: 8) – sowie der in der bundesdeutschen Gesellschaft imaginierten glücklichen „Rama-Frühstücksfamilie“ (ebd.: 196) vor. Von Jana Günther Zeitschrift Suburban 04.10.2017
Der falsche Schein des Familismus: Ein Augenschein vor Ort offenbart verhärtete Fronten und ungleiche Machtverhältnisse: Was Familismus in verschiedenen Zeiten bedeutete, wie dabei Frauen in zeitgemässe Rollenkorsetts gezwängt und entsprechend den politischen Zielen in den Zeitepochen instrumentalisiert wurden, wird im Buch von Gisela Notz diskutiert. Als Quelle „biologischer und sozialer Reproduktion“ (S. 15) regelt die Familie die Aufzucht, Erziehung und Versorgung der Kinder und die Pflege Angehöriger. Diese Arbeiten leisten meist Frauen. Staat und Politik haben ein drängendes Interesse an der Familie, so die Autorin, weil mit dieser die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Macht des Mannes erhalten wird. Von Anne Allex Untergrundblättle 10.07.2017
REZENSION: (...) Das Buch ist in der Reihe „theorie.org“ erschienen, die sich als Basisbibliothek für kritische Köpfe betrachtet, die sich im Rahmen von Schule, Universität oder politischer Gruppen mit linker Theorie auseinandersetzen möchten, insbesondere solcher, die inzwischen in Vergessenheit geraten ist. Von Dr. Steffen Großkopf Socialnet.de 07.10.2016
Weitere Pressestimmen
«Das Buch verdeutlicht die Herrschafts- und Machtinteressen, die hinter dem Familienideal stecken und erklärt damit implizit, warum in der kapitalistischen Produktionsweise keine wirkliche Emanzipation von Frauen und ihre Selbstbestimmung durchsetzbar sind.» Anne Allex in «Contraste», 12/2016
«Notz vermittelt anschaulich, wie die (u.a. familien- und frauen-)politischen Maßnahmen von der Kleinfamilie ausgehen, obwohl sie nicht der Lebensrealität der Menschen entsprechen und sich dadurch der diskriminierende Charakter des Familismus ergibt. Das Buch lädt ein, eigene Lebensentwürfe zu hinterfragen und den selbstverständlichen Begriff der Familie kritisch zu überdenken.» Magdalena Übleis-Lang in «Weiberdiwan», Sommer 2016
«”Wir brauchen einen Familismus!”, hieß es im Februar 2014 in der F.A.Z. Bloß nicht, meint die Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz. Schließlich präge der schon seit Jahrhunderten maßgeblich Sozialstruktur und Politik unseres Landes mit…» Mona Grosche in «Junge Welt», 12.2.2016
«Besonders spannend sind ihre kontrastierenden Ausführungen zu den Kämpfen der bürgerlich weißen Frauenbewegungen gegen das Familienideal und die Bestrebungen von christlich-fundamentalistischen Gruppen, um eine familistische Sozialstruktur zu erhalten.» Sabrina Wegerer in «an.schläge», 2/2016
«Die Autorin weist klar und deutlich nach, dass der Familismus einen falschen Ausgangspunkt hat: Die Familie als solche gibt es heute ebenso wenig, wie es sie je gegeben hat. Und keinesfalls war das zu allen Zeiten die bürgerliche Kleinfamilie, wie wir sie heute kennen.» Monika Jarosch in «aep-Informationen», 4/2015
«Die Sozialwissenschaftlerin und Historikerin Gisela Notz hat ihren zahlreichen Veröffentlichungen einen weiteren sehr lesenswerten Band hinzugefügt. Rainer Holze in «Marxistische Erneuerung», H.110 Einführend eine sehr lesenswerte umfassende historische Rekonstruktion der Familismen …» Katharina Volk in «wir frauen», 4/2015
Die Autorin
Gisela Notz ist Sozialwissenschaftlerin. Sie lebt und arbeitet in Berlin. 1985 bis 1997 Redakteurin der Zeitschrift «beiträge zur feministischen theorie und praxis»; bis 2024 Lunapark21, zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie. Bis 2007 Wissenschaftliche Referentin für Frauengeschichte im Historischen Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn. Lehrbeauftragte und Vertretungsprofessuren an verschiedenen Universitäten. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, alternative Ökonomie, Frauen-, Familien- und Sozialpolitik.
Erstellt: 14.02.2025 - 15:07 | Geändert: 14.02.2025 - 15:28