Future History 2050. Von Thomas Harding. Rezension von Britta Kiersch

REZENSION
History 2050. Von Thomas Harding   Jacoby & Stuart   ISBN 978-3-96428-057-2

Bei einer Recherche im Berliner Landesarchiv findet Thomas Harding 9 Hefte mit handschriftlichen Notizen auf Englisch. Diese Notizen beschreiben einen Zeitraum von 2020 bis 2050 und in den Heften befinden sich außerdem abgestempelte Postkarten, Kopien von Briefen und andere historische Dokumente aus diesem Zeitraum. Nach genauerer Untersuchung gelangt er zu der Erkenntnis, dass es sich bei diesen Unterlagen eindeutig um Originale handelt. Aber wie sollen diese aus der Zukunft in unsere Gegenwart gelangt sein?

Um diesem zeithistorischen Dokument eine breite Öffentlichkeit zu ermöglichen, beschließt der Autor, sie in diesem Buch abzudrucken. Es handelt sich dabei um Aufzeichnungen von Interviews, die eine gewisse Billy mit Ihrer Großma Nancy geführt hat, um auf diese Art eine individuelle Geschichtsschreibung durchzuführen, die verdeutlicht, wie die Menschen gelebt haben, wie ihr Alltag aussah. Was aßen sie, was trugen sie, wen liebten sie, was veranlasste sie, jeden Morgen aufzustehen. Billy selbst ist knapp 15 Jahre alt, sie wurde 2035 geboren und lebt in London (gemeinsam mit 25 000 anderen Menschen) in einem City Tower.

„Das Mittagessen zu Hause wird wieder von Cook930 zubereitet (Salat im Sommer, Suppe im Winter). Nach dem Mittagessen erledige ich meine Gemeindearbeit. Zur Zeit bedeutet das, dass ich Kindern unserer Grundschule Geschichten vorlese. Natürlich wird der meiste Unterricht von einem Robotlehrer gegeben, was den Vorteil hat, dass er für jeden Schüler den individualisierten Lernstoff bereithält. Aber Menschen können natürlich etwas vermitteln, was Roboter nicht können. Humor zum Beispiel oder Körperkontakt…“

Dieses Zitat stammt aus einer der Passagen, in denen Billy die Interviewsequenzen mit eigenen Gedanken ergänzt und kommentiert. Angereichert sind ihre Aufzeichnungen durch Postkarten, die ihre Großmutter von einer Freundin aus Venedig erhielt, die bis zum SHOCK (dem globalen Kollaps) dort lebte und auch durch Kopien von Briefen, in denen sie dieser Freundin antwortete.

Thomas Harding ist mit diesem Buch etwas ganz interessantes gelungen: Er hat eine Utopie geschrieben, die sich als historisches Dokument tarnt und es gelingt ihm, seine jugendliche Zielgruppe dadurch zu bannen, dass die Perspektive seiner Hauptfigur ebenfalls keine teilnehmende ist, sondern eine noch weiter in der Zukunft liegende. Dadurch entsteht der Eindruck, als wäre wirklich schon passiert, wovon Billys Großmutter spricht. In ihren Berichten entlarvt sie ihre eigene Generation als diejenige, die den SHOCK nicht verhindert hat, die relativ tatenlos zugesehen hat, wie sich die Katastrophe - deutlich und für alle sichtbar - anbahnte: Damals, zu Beginn des 21sten Jahrhunderts, hätte man noch die Chance gehabt, die Entwicklung zu stoppen.

Momentan sind wir weltweit durch die Corona-Pandemie ziemlich lahmgelegt und eigentlich sollten auch die Entscheider in der Politik realisieren, dass wir nicht zu dem „Davor“ zurückkehren dürften. Sie sollten die Gelegenheit nutzen, um Veränderungen herbeizuführen, damit wir nicht dort landen, wo Thomas Harding uns im Jahr 2050 sieht. Nicht nur den Venezianern und ihrer Stadt zuliebe…

Formal ist dieser Roman sehr abwechslungsreich und lebendig, aber auch inhaltlich kann der Autor extrem Spannung aufbauen. Man geht gemeinsam mit Billy auf eine familiäre und gesellschaftliche Zeitreise, die zugleich Zukunft und Vergangenheit ist, präsentiert durch die Erinnerungen einer alten Frau und zugleich reflektiert durch die Gedanken eines Mädchens. Mich hat dieses Buch fasziniert und beeindruckt.

History 2050. Von Thomas Harding

 

Erstellt: 15.05.2020 - 07:34  |  Geändert: 17.12.2023 - 23:14