Gerhard Mersmann (Medienpräsenz)

Wie leicht und frei! Was wie eine unterhaltsame Lektüre über eine Kindheit im sozialistischen Albanien anfing, wurde zu einem regelrechten Thriller über einen System Change. Die Autorin Lea Ypi, Jahrgang 1979, heute auf dem Feld der Politischen Theorie unterwegs, hat der Leserschaft mit diesem sehr persönlichen Buch einen intimen Einblick gewährt. Unter dem deutschen Titel „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ beschreibt sie den sehr speziellen Weg des Sozialismus in Albanien unter dem großen Enver Hodscha aus der Sicht eines Kindes und seiner Familie und die plötzliche Implosion dieses politischen Systems aus Sicht einer jungen, heranwachsenden Frau.

Und gerade diese Perspektive ist es, die es ermöglicht, die einfachen, aber zielführenden Fragen zu stellen, die eine jede politische Ordnung beantworten muss. Früh merkt das Kind, dass ihre Eltern und erst recht die Großmutter vor der Revolution zur herrschenden Klasse gehört hatten und sich nun durch einen gespielten Konformismus fügten. Sie beobachtet die Brüche in der Verarbeitung dieser Situation bei den Elternteilen, sie charakterisiert exzellent die einzelnen Prototypen, die autoritäre Regime hervorbringen: die Ideologen, die Propagandisten, die Spione und und Denunzianten, aber auch die menschlichen Bande, die über alle Strukturen und Zwänge hinausreichen und das Leben dennoch lebenswert gemacht haben.

Als dann alles zusammenbricht, sieht die junge Frau die Möglichkeiten, die die neue Freiheit mit sich bringt, inklusive des Preises: Verlust in allen Bereichen,  vom kleinen Sparvermögen bis hin zu fliehenden Familienmitgliedern, von schwindenden institutionellen Gewissheiten bis zu vielen Vertrauten, die auf der Flucht auf den Meeresgrund sanken. Und die neuen Gesichter, die dann auftauchten und ein neues Zeitalter versprachen und doch in vielerlei Hinsicht den Fahnenschwenkern aus der überwunden geglaubten Zeit verräterisch ähnelten.

Das überzeugend Authentische an diesem Buch ist der unbestechliche Realismus. Aus Sicht der Erzählenden sind es nicht die Systeme, die das Leben lebenswert oder zu einem Fluch machen, sondern die Menschen, die über Haltung und Gesinnung verfügen oder eben auch nicht. Bei der gesamten Lektüre habe ich darüber nachgedacht, warum in Deutschland, das auch den Zusammenbruch eines Systems wie einen atemberaubend schnellen Übergang zu einer neuen Ordnung im Osten erlebte, nie eine solch bestechend einfache, menschliche Sicht auf die Entwicklungen aufkam oder aufkommen durfte. Jede Form der Anerkennung des Früheren und jede Kritik an dem Neuen machte politisch verdächtig, diskreditierte die unbefangen kritische Sicht auf die Entwicklungen komplett.

Insofern erzählt Lea Ypi in „Frei“ nicht nur einiges, was man als Zentraleuropäer über Albanien und seine jüngere Geschichte wissen sollte, sondern auch, wie wir uns immer wieder mit instinktiver Zielsicherheit in Denkfallen begeben, die es uns unmöglich machen, wirklich frei an etwas Neuem zu arbeiten und uns letztendlich auch selbst zu befreien. Das hat die Autorin mit Sicherheit nicht intendiert, ist aber ein großes Geschenk, das sie uns deutschen Lesern mitbringt. Und, ein Aspekt, der allenfalls noch in unseren Geschichtsbüchern zu finden ist: ihr gelingt es, die jeweiligen, für alle Beteiligten sicherlich sehr herausfordernden Geschehnisse in einem Licht der Komik erscheinen zu lassen, was doppelt befreit.

Lea Ypi ist eine kluge Frau. Mit welchem Zitat beginnt sie ihre Erzählung?

„Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst.“ Rosa Luxemburg

Wie kann auf das fatale, desaströse Bild antworten, das gegenwärtig über Russland geboten wird, adäquat geantwortet werden? Sicherlich nicht, in dem auf die gegenwärtig erzeugten, von einem monokausalen Feindbild bestimmten Vorstellungen eingegangen wird. Alexander Kluge, Jurist, Literat, Regisseur, Filmtheoretiker und Philosoph, hat eine Antwort gegeben, die es in sich hat. In seinem Buch „Russland Kontainer“ hat er genau das gemacht, was klug und vernünftig ist. Wie der Begriff Kontainer bereits vermuten lässt, hat er vieles in den ihm zur Verfügung stehenden Raum gepackt, was die Komplexität und Weite Russlands dokumentiert. Und, das Wichtigste, die Dokumente, die er zur Verfügung stellt, sind aus sich selbst erklärend. Er lässt Russland sprechen. Mit dem „Russland Kontainer“ vermittelt Kluge eine Ansicht, bei der sich viele, die das Land nur aus der medial und politisch motivierten Reduktion kennen, die Augen reiben werden.

In den fünf Magazinen, die der Kontainer beinhaltet, sind zentrale Begriffe enthalten, die dabei behilflich sind, Russland jenseits der Propagandamaschine zu begreifen. Dabei handelt es sich zunächst um die russische Seele, ein Terminus, der vielen vielleicht noch geläufig ist, der seinerseits jedoch zumeist auf einen melancholisch-schwermütigen Zustand reduziert wird. In zahlreiche Dokumenten wird diese Vereinfachung aufgesprengt und mit Themen wie Treue, Liebe und Loyalität erweitert.

In der zweiten Sequenz, dem „Vaterland der Besonderheiten“ wird deutlich, wie avantgardistisch das frühe Stadium der Sowjetunion geprägt war. Von den technischen Extravaganzen, den Überlegungen der geographischen Umgestaltung bis hin zu den Phantasien zu der Version eines modernen Einwanderungslandes. Was folgte, war die Liquidierung der Ideenträger wie der Ideen selbst, obwohl sie, trotz allem, alles andere als verloren gegangen sind.

Und nicht fehlen dürfen die geographischen Besonderheiten. Sie, sie dem Betrachter aus dem europäischen Zentralland nur abstrakt bekannt sind, ergeben eine Vorstellung davon, was Weite, Unbewohnbarkeit und gleichzeitig Reichtum bedeuten. Die Landkarte entpuppt sich als ein Schlüssel, der die Tür von der naiven Vorstellung einer leicht zu handhabenden Erschließung zuschließt. Dass dabei die imperialen Vorstellungen der Heartland-Theorie von dem Briten Mackinder bis zum polnisch-amerikanischen Brezinski nicht fehlen, zeigt die Zangen, die den Handlungsspielraum Russlands immer einrahmten. Und es werden die Versuche von Napoleon und Hitler noch einmal aus russischer Sicht beschrieben - das Überleben als Nation trotz ungeheurer Verluste.

Ein weiteres Kapitel setzt sich mit den Chancen und der Zerstörung auseinander, die durch die Perestroika ausgelöst wurden und mit dem Zustand der Anarchie, der folgte und den Raubzug auf das gesellschaftliche Eigentum auslöste. Auch das ein Feldzug, aus dem Innern, der analog zu denen von außen ungeheure Verwüstungen hinterließ.

Der Kontainer schließt mit den Fragmenten, die aus den produktiven, avantgardistischen wie den zeitgenössischen Vorstellungen weiter existieren, und die in die Zukunft weisen können, wenn nicht der Zangengriff von außen weiter anhielte, der das bewirkt, was letztendlich auch zum Zusammenbruch des großen Experiments geführt hat: der Mobilisierung aller Kräfte für die Verteidigung, die alle anderen gesellschaftlichen Aktivitäten paralysiert.

Kluges „Russland Kontainer“ erweitert das Wissen über das Phänomen Russland, er besticht durch die dokumentarische Aussagekraft und er zerstört das existierende, banale und dämonische Feindbild in Gänze, ohne das Hilfsmittel einer politischen Apologie zu benötigen. Die Lektüre ist keine leichte Kost, aber mit leichter Kost ist die Welt auch nicht zu erklären. Wer das Buch liest, wird reichlich belohnt. Es zerstört das bornierte Feindbild bis auf die Grundmauern.

Ja, sie existieren noch. Noch! Menschen, die den großen Krieg im letzten Jahrhundert erlebt haben. Rechnerisch gesehen sind es die Kind. Ein Kind dieser Zeit, in der der Krieg zu Ende ging, in der die Westanbindung eines Teils Deutschlands vollzogen wurde, in der der Kalte Krieg wütete und beendet wurde und die in einen neuen, zunächst kalten und dann heißen krieg mündete, ist Alexander Kluge. Er hat sich früh nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine zu Wort gemeldet. Mit der Publikation „Russland Container“ erinnerte er daran, was zwischen Deutschen und Russen an Gemeinsamkeiten wie Grausamkeiten geschah und im Keller des kollektiven Bewusstseins liegt. Mit der „Kriegsfibel 2023“ schreibt Kluge ein weiteres Kapitel. Nicht über die Ambivalenz von Nationen, sondern über die Unwägbarkeiten des Krieges und seine Permanenz.

Es beginnt mit einem Déjà-Vu. „Der Krieg ist wieder da“ erinnert sich der Autor als Zeitzeuge und vieles, was immer noch in seinen Sinnen präsent ist, hat eine eigentümliche Aktualität. Um in der Folge aufzuräumen mit den Mythen, die jeder Krieg produziert. Von der Illusion technischer Sicherheit, von den ständig wiederkehrenden Ressentiments und den ebenso oft vorkommenden Zufällen, die gravierende Wenden nach sich ziehen und den vorübergehenden Ausgang des Krieges beeinflussen können. Und Kluge stöbert nicht nur in dem nun vor uns liegenden Konflikt zwischen Zentral- und Osteuropa, sondern auch im amerikanischen Bürgerkrieg, der eiternde Wunden bis ins Heute geschlagen hat und die amerikanische Gesellschaft immer wieder zu schmerzhaften Erlebnissen führt. Nein, so Kluge, Kriege verlaufen nie so, wie die, die sie beginnen, sich das vorstellen.

Wer glaubt, mit der „Kriegsfibel 2023“ ein Buch zu erwerben, das den jetzigen Krieg in der Ukraine erklärt und dokumentiert, wird enttäuscht werden. Alexander Kluge ist beikamt dafür, dass er in die tiefen Schichten von Phänomenen eindringt und sehr viel von seiner Leserschaft verlangt. Und die Botschaften, mit denen er sich als guter Didakt sehr zurückhält, haben es in sich. Sie zwingen zu einem gravierenden Perspektivenwechsel, egal, auf welcher Seite man steht.

Die eine Quintessenz, die Kluge preisgibt ist die Gewissheit, dass die wahren Chronisten des Krieges die Kinder sind.  Da ist es unerheblich, was ein Herr Putin, ein Herr Biden, die Schreihälse subalterner Mächte oder die waffenstarrenden Militärbündnisse zum besten geben. Wie es weiter gehen wird, nach der großen Vernichtungsshow, das werden die sein, die als Kinder Zeugen dieser Material- und Menschenschlacht werden. Auf beiden Seiten!

Und, auch das so ein Apercu, das nur von einem Menschen kommen kann, der über das hohe Gut der Erfahrung verfügt: „Ist der Krieg ausgebrochen, hört die Herrschaft über ihn auf. Krieg duldet keine Vorgesetzten.“ Führen Sie sich das vor Augen. Und versuchen Sie eine Prognose.

Kluge, ein Grandseigneur philanthropischen Denkens, hält sich auch da zurück. Er will nicht belehren, vielleicht weil er weiß, dass dieses Instrument in unseren Tagen durch häufigen Missbrauch allzu abgenutzt darniederliegt. Alexander Kluge reicht auch da ein Zitat:

„Wer auch immer siegt, stürzt ab“. Homer