02.10.2024

Lea Ypi. Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

Remote Video URL

Wie leicht und frei! Was wie eine unterhaltsame Lektüre über eine Kindheit im sozialistischen Albanien anfing, wurde zu einem regelrechten Thriller über einen System Change. Die Autorin Lea Ypi, Jahrgang 1979, heute auf dem Feld der Politischen Theorie unterwegs, hat der Leserschaft mit diesem sehr persönlichen Buch einen intimen Einblick gewährt. Unter dem deutschen Titel „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ beschreibt sie den sehr speziellen Weg des Sozialismus in Albanien unter dem großen Enver Hodscha aus der Sicht eines Kindes und seiner Familie und die plötzliche Implosion dieses politischen Systems aus Sicht einer jungen, heranwachsenden Frau.

Und gerade diese Perspektive ist es, die es ermöglicht, die einfachen, aber zielführenden Fragen zu stellen, die eine jede politische Ordnung beantworten muss. Früh merkt das Kind, dass ihre Eltern und erst recht die Großmutter vor der Revolution zur herrschenden Klasse gehört hatten und sich nun durch einen gespielten Konformismus fügten. Sie beobachtet die Brüche in der Verarbeitung dieser Situation bei den Elternteilen, sie charakterisiert exzellent die einzelnen Prototypen, die autoritäre Regime hervorbringen: die Ideologen, die Propagandisten, die Spione und und Denunzianten, aber auch die menschlichen Bande, die über alle Strukturen und Zwänge hinausreichen und das Leben dennoch lebenswert gemacht haben.

Als dann alles zusammenbricht, sieht die junge Frau die Möglichkeiten, die die neue Freiheit mit sich bringt, inklusive des Preises: Verlust in allen Bereichen,  vom kleinen Sparvermögen bis hin zu fliehenden Familienmitgliedern, von schwindenden institutionellen Gewissheiten bis zu vielen Vertrauten, die auf der Flucht auf den Meeresgrund sanken. Und die neuen Gesichter, die dann auftauchten und ein neues Zeitalter versprachen und doch in vielerlei Hinsicht den Fahnenschwenkern aus der überwunden geglaubten Zeit verräterisch ähnelten.

Das überzeugend Authentische an diesem Buch ist der unbestechliche Realismus. Aus Sicht der Erzählenden sind es nicht die Systeme, die das Leben lebenswert oder zu einem Fluch machen, sondern die Menschen, die über Haltung und Gesinnung verfügen oder eben auch nicht. Bei der gesamten Lektüre habe ich darüber nachgedacht, warum in Deutschland, das auch den Zusammenbruch eines Systems wie einen atemberaubend schnellen Übergang zu einer neuen Ordnung im Osten erlebte, nie eine solch bestechend einfache, menschliche Sicht auf die Entwicklungen aufkam oder aufkommen durfte. Jede Form der Anerkennung des Früheren und jede Kritik an dem Neuen machte politisch verdächtig, diskreditierte die unbefangen kritische Sicht auf die Entwicklungen komplett.

Insofern erzählt Lea Ypi in „Frei“ nicht nur einiges, was man als Zentraleuropäer über Albanien und seine jüngere Geschichte wissen sollte, sondern auch, wie wir uns immer wieder mit instinktiver Zielsicherheit in Denkfallen begeben, die es uns unmöglich machen, wirklich frei an etwas Neuem zu arbeiten und uns letztendlich auch selbst zu befreien. Das hat die Autorin mit Sicherheit nicht intendiert, ist aber ein großes Geschenk, das sie uns deutschen Lesern mitbringt. Und, ein Aspekt, der allenfalls noch in unseren Geschichtsbüchern zu finden ist: ihr gelingt es, die jeweiligen, für alle Beteiligten sicherlich sehr herausfordernden Geschehnisse in einem Licht der Komik erscheinen zu lassen, was doppelt befreit.

Lea Ypi ist eine kluge Frau. Mit welchem Zitat beginnt sie ihre Erzählung?

„Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst.“ Rosa Luxemburg

Sprache (Ton)
Deutsch
Videoautoren

Erstellt: 03.05.2025 - 10:52  |  Geändert: 03.05.2025 - 10:52

verwendet von

Albanien 1989: Der letzte stalinistische Außenposten in Europa, ein isoliertes Land, das man nur schwer besuchen und noch schwerer verlassen kann. Es herrschen Mangelwirtschaft, Geheimpolizei und das Proletariat. Der Kommunismus hat den Platz der Religion übernommen. Für die zehnjährige Lea Ypi ist dieses Land ihr Zuhause: Ein Ort der Geborgenheit, des Lernens, der Hoffnung und der Freiheit.

Alles ändert sich, als in Berlin die Mauer fällt und in Tirana Enver Hoxhas Statue vom Sockel stürzt. Jetzt können die Menschen wählen, wen sie wollen, sich kleiden, wie sie wollen, anbeten, was sie wollen. Aber die neue Zeit zeigt bald ihr unfreundliches Gesicht: Skrupellose Geschäftemacher ruinieren die Wirtschaft, die Aussicht auf eine bessere Zukunft löst sich auf in Arbeitslosigkeit und Massenflucht. Als das Land im Chaos zu versinken droht und in ihrer Familie Geheimnisse ans Licht kommen, beginnt Lea sich zu fragen, was das eigentlich ist: Freiheit.