Sphären des Aufstands
Anmerkungen zur Dekolonisierung des Unbewussten

In Sphären des Aufstands untersucht Suely Rolik ausgehend von künstlerischen und politischen Beispielen vor allem aus Brasilien die Umstände, die zu regressiven, reaktionären Regierungen in der ganzen Welt führen.
Zu diesen Umständen gehören auf der Makroebene eine Allianz zwischen Neoliberalismus, extremem Konservatismus und autoritärem Populismus, auf der Mikroebene eine Krise des hegemonialen machistischen Subjekts und dessen reaktive und gewaltvolle Antworten. Denn die zunehmende Selbstermächtigung derer, die andere Weisen der Subjektivierung praktizieren, wird nicht als Inspiration, sondern als Bedrohung erfahren.
Je mehr das globalisierte Regime des maschinischen Kapitalismus seine Herrschaft festigt, desto perfider verfeinert es die ihm eigene Mikropolitik. Diese spezifisch kapitalistische Mikropolitik beinhaltet die koloniale Aneignung des Lebens: Der Lebenstrieb wird von der Schöpfung und der Kooperation getrennt und auf die zerstörerische Praxis der Kapitalakkumulation umgelenkt. Diese Dynamik, die Suely Rolnik als „Prostituierung“ konzipiert, ist der Motor dessen, was Rolnik das kolonial-kapitalistische Regime des Unbewussten nennt.
In Sphären des Aufstands benennt Rolnik aber auch die Bedingungen, die notwendig sind, um dieses Regime zu bekämpfen: die Wiederaneignung des Lebenstriebs, der energetischen Grundlage im Herzen aller Lebensformen, einschließlich des menschlichen Lebens.
Sphären des Aufstands (Teil eins) - Vorschläge zur Bekämpfung der Zuhälterei über das Leben: „Immer geht es darum, das Leben dort, wo es gefangen ist, zu befreien – oder es doch in einem unsicheren Kampf zu versuchen.“ (Gilles Deleuze/Félix Guattari, 1991)1 „Die Aufzehrung der Rohstoffe ist vermutlich deutlich weniger fortgeschritten als die Aufzehrung der subjektiven Ressourcen, der vitalen Ressourcen, die unsere Zeitgenossen erfasst hat. Wenn man sich so sehr darin gefällt, ausführlich die Verwüstung der Umwelt zu beschreiben, dann auch, um den ungeheuren Verfall der Innerlichkeiten zu verschleiern. Jede Ölpest, jede verödete Steppe, jedes Aussterben einer Art ist ein Bild unserer zerschlissenen Seelen, unserer Absenz von der Welt, unserer intimen Unfähigkeit, sie zu bewohnen.“ (Unsichtbares Komitee, 2014)2 Die Welt krümmt sich vor Krämpfen und wir mit ihr. Wir sind von Unbehagen eingenommen, von einem Mix an Gefühlen. Einmal ist da die Furcht vor der finsteren Landschaft, geschaffen durch den Aufstieg der reaktiven Kräfte überall, deren Tenor von Gewalt und Bestialität uns an die schlimmsten Momente der Geschichte erinnert. Gleichzeitig stehen wir, perplex, vor einem anderen Phänomen: den neuesten finanziellen und neoliberalen Entfaltungen des kapitalistischen Regimes, das sein koloniales Projekt zur „globalitären“3 Verwirklichung bringt – die weltweite Übernahme zu ihren letzten Konsequenzen treibt. Auf den ersten Blick scheint uns die Gleichzeitigkeit dieser beiden Phänomene paradox, was unser Verständnis unscharf werden lässt und uns verwirrt: ist doch der neoliberale Modus Lichtjahre entfernt von der archaischen Beschränktheit der grobschlächtigen Kräfte des Neokonservatismus. Es sind dies radikal unterschiedliche Symptome reaktiver Kräfte, produziert in unterschiedlichen Zeiten, die jetzt in unserer Gegenwart zusammenkommen. Aber, nach einem kurzen Schrecken verstehen wir, dass der Neoliberalismus diese groben Subjektivitäten an der Macht braucht, um für ihn die schmutzige Arbeit der Zerstörung zu übernehmen, von allen demokratischen und verfassungsrechtlichen Errungenschaften, um ihre bloße Vorstellung aufzulösen und um ihre ProtagonistInnen von der Bildfläche verschwinden zu lassen – auch Linke aller Art, aber nicht nur. Von Suely Rolnik Springerin Heft 4/2017
Sphären des Aufstands (Teil zwei) - Der Unterschied von makropolitischer und mikropolitischer Perspektive: Makropolitischer Aufstand lässt sich als ein programmatischer Protest des Bewusstseins fassen (...) Mikropolitischer Aufstand – der triebhafte Protest des Unbewussten. Von Suely Rolnik Springerin Heft 4/2017
Die Autorin
Suely Rolnik ist eine brasilianische Psychoanalytikerin, Autorin und Kuratorin. Sie ist Professorin an der Katholischen Universität von São Paulo, wo sie das Zentrum für Subjektivitätsstudien im Rahmen des PhD-Programms für klinische Psychologie gegründet hat. Von 1970 bis 1979 lebte sie im Exil in Paris, wo sie einen Magister in Soziologie und Philosophie an der Sorbonne / Paris VIII, sowie einen Magister in klinischen Humanwissenschaften an der Sorbonne / Paris VII und einen klinischen PhD / D.E.S.S. erwarb. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Politik der Subjektivierung in verschiedenen Kontexten (Mikropolitik) aus einer transdisziplinären theoretischen Perspektive, die von der klinisch-politischen Pragmatik nicht zu trennen ist. Sie ist Autorin von A hora da micropolítica (N-1, 2016); Anthropophagie Zombie (Black Jack, 2012); Archive Mania (HatjCantz / dOCUMENTA 13, 2011); Cartografia sentimental (Estação Liberdade, 1989; 4. Aufl. rev, Sulinas, 2016); und Micropolítica: cartografias do desejo mit Félix Guattari (Vozes, 1986, 7. Aufl. rev., 2005, 14. Aufl., 2017, auf Englisch bei Semiotexte, 2006, unter dem Titel: Molecular Revolution in Brazil). In deutscher Übersetzung ist ihr Aufsatz „Geopolitik der Zuhälterei“ in Kritik der Kreativität (transversal texts 2016) sowie ihre Monografie Zombie Antropophagie. Zur neoliberalen Subjektivität (Turia & Kant 2018, leider vergriffen) erschienen.
Die Übersetzer
Max Jorge Hinderer Cruz ist ein bolivianisch-deutscher Autor, Herausgeber, Philosoph (Dr.phil.) und Mitbegründer der Publikationsplattform PCP–Programa Cultura Política in La Paz, Bolivien. Er ist Direktor des Programa de Estudios Independientes (PEI) des Museums für Zeitgenössische Kunst in Barcelona (MACBA). Zuvor war er Direktor des Nationalen Museum für Kunst (MNA) in La Paz und künstlerischer Leiter der Akademie der Künste der Welt (ADKDW) in Köln. Er ist der Autor der Bücher “LA DEUDA A LA BELLEZA: Textos 2019-2021” (2022) und Hélio Oiticica & Neville D'Almeida: Blockexperimente in Cosmococa-Program in Progress (mit Sabeth Buchmann, Afterall 2013). Sein Buch “Before Beauty. Aesthetics and Anticolonialism” erscheint 2025 bei Sternberg Press. Er schreibt regelmäßig für die Tageszeitung La Razón in La Paz.
Gerald Raunig arbeitet am eipcp (European Institute for Progressive Cultural Policies), u.a. in der Redaktion der multilingualen Publikationsplattform transversal texts, sowie als Professor für Philosophie an der Zürcher Hochschule der Künste. Seine Bücher sind ins Englische, Serbische, Spanische, Slowenische, Russische, Italienische, Holländische und Türkische übersetzt. Neuere Buchveröffentlichungen in deutscher Sprache: Kunst und Revolution. Künstlerischer Aktivismus im langen 20. Jahrhundert, Wien: Turia+Kant 2005, Neuauflage Wien: transversal texts 2017; Instituierende Praxen. Bruchlinien der Institutionskritik, Wien: Turia+Kant 2008 (gemeinsam mit Stefan Nowotny, Neuauflage Wien: transversal texts 2016); DIVIDUUM. Maschinischer Kapitalismus und molekulare Revolution, Band 1, Wien: transversal texts 2015; Maschinen Fabriken Industrien, Wien: transversal texts 2019; Ungefüge. Maschinischer Kapitalismus und molekulare Revolution, Band 2, Wien: transversal texts 2021.
Rubia Salgado ist als Erwachsenenbildner_in, Kulturarbeiter_in und Autor_in in selbstorganisierten Kontexten tätig. Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen im Feld der kritischen Bildungs- und Kulturarbeit in der Migrationsgesellschaft. Sie arbeitet in Forschungs- und Entwicklungsprojekten im Bereich der Erwachsenbildung für Migrant_innen, als Unterrichtende in der Erwachsenenbildung (Deutsch als Zweitsprache, Alphabetisierung, Kulturvermittlung) und in der Aus- und Weiterbildung von Lehrenden sowie als pädagogische Leiter_in der Bildungsarbeit mit Migrant_innen in maiz. Sie ist Mitgründer_in und Mitarbeiter_in der Selbstorganisation maiz – Autonomes Zentrum von und für Migrantinnen, absolvierte ein Lehramtsstudium (Portugiesisch und Literaturwissenschaft) in Rio de Janeiro/Brasilien und ist als externe Lektor_in an Universitäten und Hochschulen tätig. Aktuell schreibt sie eine Dissertation zur Literatur [brasilianischer] Autor_innen im deutschsprachigen Raum.
Ruth Sonderegger ist derzeit Professor für Philosophie und ästhetische Theorie an der Academy of Fine Arts Wien. Ihre Hauptforschungsergebnisse sind Ästhetik, kritische Theorien und Resistenzstudien. Zu ihren jüngsten Veröffentlichungen gehören: Konzepte der Kritik in der modernen und zeitgenössischen Philosophie (gemeinsam mit K. de Boer), Houndmills BasingStroke, 2012; Kunst und die Kritik der Ideologie nach 1989 (gemeinsam mit E. Birkenstock, M. Hinderer und J. Kastner), Bragenz und Köln, 2013; Pierre Bourdieu und Jacques Rancière. Ästhetische Regime Oder ästhetische Disposition? (Co-Educited bei J. Kastner), Wien, 2014; Räume für Kritik. Zeitgenössische Kunstdiskurse (gemeinsam mit P. Gielen, Th. Lijster, S. Milevska); Foucaults Gegenwart. Sexualität-Sorge-Revolution (Co-Autoren G. Ludwig und I. Lorey), Wien: Transversal Texte 2016.
Vorwort
Stefano Harney ist Professor für transversale Ästhetik bei Kunsthochschule für Medien Köln (KHM). Zu seinen Büchern gehören die Undercommons: Fugitive Planning & Black Study (2013) und alle unvollständigen (2021), die beide mit Fred Moden mitverfasst und von kleinen Kompositionen und in Deutsch von Transversal Texts (2016, 2021), staatliche Arbeit: öffentliche Verwaltung veröffentlicht wurden: öffentliche Verwaltung und Massenintellektualität (Duke University Press, 2002) und die Kultur des Managements (Routledge, 2008).
Erstellt: 12.02.2025 - 06:46 | Geändert: 12.02.2025 - 07:17