Vom Hass zum Genozid. Das Dritte Reich und die Juden. Von Léon Poliakov. Rezension von Erich Dürschmied

REZENSION
Vom Hass zum Genozid. Das Dritte Reich und die Juden.   editon Tiamat   ISBN 978-3-89320-277-5

Eine gekrümmte alte Frau mit vier kleinen Kindern, eines im Babyalter an der Brust, schleppt sich mühsam voran. Die Kinder gehen vorwärts gebeugt, teilweise halten sie sich an den Händen. Das Bild stammt aus Auschwitz-Birkenau und der Betrachter weiß, die Frau geht mit den Kleinen in den Tod, „ins Gas“. Mich hat dieses Bild geprägt, von Jugend an und durch mein ganzes Leben begleitet. Nichts kann die Dimensionen der Naziverbrechen mehr veranschaulichen als diese szene. Unschuldige, wehrlose Menschen, aussortiert, abgesondert, werden ermordet. Sie haben keine Chance. Sie sind das Opfer von Irren, die es verstanden haben, sich an die Spitze eines Volkes zu setzen und dieses Volk mit monströsem Gedankengut zu durchdringen.

Natürlich sind sie dabei geschickt vorgegangen, viele Zufälle und latente Strömungen kamen ihnen zu Hilfe. Es gab keinen Generalplan, die Entwicklung verlief in vielen Bereichen chaotisch und hatte eine erhebliche Eigendynamik. Als Brandbeschleuniger wirkte dann vor allem der Krieg im Osten, in Polen und später in der Sowjetunion, wo niederste Instinkte freigesetzt wurden und eine unvorstellbare Verrohung der Besatzungssoldaten stattfand.

Als sich nach wenigen Monaten, nämlich nach der Niederlage vor Moskau, abzuzeichnen begann, dass dieser Krieg nicht erfolgreich verlaufen würde, lautete im innersten Zirkel um Hitler die neue Zielsetzung: ‚Wenn wir schon den Krieg nicht gewinnen, dann ermorden wir wenigstens die Juden‘.“ So war die Wannsee-Konferenz im Januar 1942 kein Zufall.

Nun erschien im Verlag „edition tiamat“ zu dieser Thematik das Buch „Vom Hass zum Genozid. Das Dritte  Reich und die Juden“ von Léon Poliakov. 70 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung in Frankreich liegt es nun endlich in deutscher Übersetzung vor. Warum es so lange gedauert hat, kann man sich ausmalen. Das Verdienst Poliakovs liegt darin, dass er eine noch heute gültige Gesamtdarstellung von Judenhass und Massenmord geliefert hat, basierend auf deutschen Dokumenten, auf Dokumenten der Täter. Zugang zu diesen Quellen verdankt er seiner Mitgliedschaft als Berater im französischen Team während des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher.

Ganz besonders haben mich die anfänglichen Kapitel angesprochen, in denen Poliakov detailliert die Maßnahmen herausarbeitet, die zur schrittweisen Isolierung und Ausgrenzung des jüdischgläubigen Teils der Bevölkerung unternommen wurden. So standen am Anfang Berufsverbote für jüdische Beamte und Freiberufler. Dann folgte der Boykott jüdischer Geschäfte, der Ausschluss jüdischer Kinder aus öffentlichen Schulen, der Verlust von Häusern und Wohnungen, der Ausschluss von Theater-, Konzert- und Kinobesuchen. Die Nürnberger Rassegesetze entzogen Menschen jüdischen Glaubens u.a. auch die Staatsbürgerschaft, rundeten den Ausschluß aus der Gesellschaft ab und leiteten die „Arisierung“ jüdischen Vermögens im großen Stil ein. Es dauerte nur gut zwei Jahre und die Entrechtung und Dämonisierung der Juden war weitgehend vollzogen, viele Menschen profitierten davon auch materiell. Damit waren schließlich die Voraussetzungen für Deportationen und Massenvernichtung geschaffen, zugleich Blaupause für andere europäische Länder

Die Geschichte beginnt nicht mit dem Massenmord. Zunächst werden tief verwurzelte Vorurteile bedient und verstärkt, die auch Teil der christlichen Tradition sind. Darum gilt es heute, vor dem Hintergrund wachsender antisemitischer Hetze, unverzüglich zu handeln, nicht die nächste Eskalationsstufe abzuwarten.
„Wehret den Anfängen“ oder anders: Am Anfang steht Aufklärung. und dazu ist Poliakovs Buch bestens geeignet.

Umfassend und gut lesbar.

Im gleichen Verlag, vom gleichen Autor: → St. Petersburg-Berlin-Paris. Memoiren eines Davongekommenen 24 €

Vom Hass zum Genozid. Das Dritte Reich und die Juden. Von Léon Poliakov

 

Erstellt: 11.12.2021 - 04:04  |  Geändert: 11.12.2021 - 04:11