Still! Von Dirk Pope. Rezension von Johanna

REZENSION 
Still! Von Dirk Pope   Hanser Verlag   ISBN 978-3-446-26816-6

Mariella spricht nicht. Seit der Trennung ihrer Eltern hat sie kein Wort mehr geäußert. Sie weigert sich schlichtweg, die Stille mit unnötigen Wörtern zu füllen. Dabei liebt sie diese eigentlich. Denn Worte sind etwas Wunderbares, obwohl sie Mariellas Meinung nach viel zu viel und viel zu belanglos benutzt werden. Deshalb schweigt sie.

Mit ihrer Mutter, aber vor allem in der Schule eckt sie deswegen an. Ihre Mutter schleppt sie nach unendlichen, vergeblichen Versuchen, sie zum Reden zu bringen, zum Arzt. Die Lehrer sehen ihre Stille als persönliche Rebellion ihnen gegenüber an, während ihre Mitschüler sie, wegen ihres Schweigens, als dumm bezeichnen und bald zu ernsthaftem Mobbing übergehen. Letztendlich probiert jeder, aus dem schweigenden Mädchen eine Reaktion, eine noch so klitzekleine Antwort, herauszuwringen. Doch Mariella bleibt stumm und ihr Entschluss, weiterhin sich jeder sozialen Interaktion zu entziehen und sich dadurch vorgegebenen Verhaltensnormen zu verweigern, stärkt sich mit jeder Sekunde, die sie im Stillen verbringt und ihre Umwelt beim Durchdrehen beobachtet.

Doch dann trifft sie Stan. Den taubstummen Jungen, der sich auf ihrem geheimen Lieblingsfluchtplatz niedergelassen hat, und die Welt der Stille, in die sie sich freiwillig begeben hat, nicht verlassen kann. Von ihm fühlt sie sich verstanden und Mariella merkt, dass Kommunikation nicht nur anstrengt und mit der richtigen Person bald fast lebensnotwendig erscheint.

Mariella ist eine interessante und komplexe Figur, was durch Dirk Popes unterschiedliche Erzählstränge gut hervorgehoben wird.

Der Erzähltext wird auf vier Ebenen vermittelt. Im Vordergrund steht Mariellas Perspektive, die dem Leser philosophisch und gefühlsvoll die Gedanken der Protagonistin näherbringt und deren Charakter ausleuchtet.

Parallel dazu nimmt Mariella an einem Interview teil, dass in Ausschnitten immer wieder zwischen den Erzählstrang geschoben wird, in dem sie auf einer sehr professionellen Ebene sowohl zum Geschehen als auch zu ihren Gefühlen und Beziehungen zu einzelnen Personen befragt wird. Das Interview ist sehr sachlich gehalten und vermittelt einen klinischen, fast verhöhnenden Eindruck auf Seiten des Interviewers, obwohl sich auch Mariella oft zynisch und sarkastisch äußert. Es wird nie wirklich klar, auf welcher Ebene das Interview stattfindet, obwohl es sich eindeutig an den Geschehnissen des Buches orientiert und diese kommentiert und bewertet.
Außerdem werden oft Chatverläufe von Stan und Mariella eingefügt, die deren einziges Mittel zur direkten Kommunikation sind. Die Unterhaltungen der beiden sind gewitzt und amüsant. Die oft sehr selbstironischen und sarkastischen Antworten untermalen die gute Chemie der beiden Charaktere und lassen deren Beziehung plastisch und belebend hervorstechen.
Weiterhin wird die Handlung noch von einer vierten Einheit kommentiert. Diese wird von berühmten Komponisten, wie Avo Pärt, bis zu Alltagsgegenständen, wie Mariellas Socken, ausgemacht und verleiht dem Ganzen noch mal einen recht schrägen Blickwinkel, der oft sehr aggressiv auf Mariellas Selbstbewusstsein abzielt und sie von außen streng beobachtet.

Mariella selbst spielt gerne mit Worten und ihre Gedankengänge sind oft philosophisch gefärbt. Dirk Pope bringt dadurch über die Story hinaus viele interessante Aspekte zur Geltung und bewegt den Leser zum Nachdenken über unterschiedlichste Themen. Mariella ist nicht unbedingt sympathisch, da sie sich hauptsächlich von ihrem Verstand leiten lässt und bewusst auf Abstand zu allen menschlichen Interaktionen geht. Dann reagiert sie aber wiederum unerwartet emotional in Bezug auf Stan, was auch von der Interviewebene überrascht angemerkt wird.

Letztendlich bin ich mir nicht sicher, ob ich das Buch brillant oder verwirrend fand. Viele Aspekte, wie zum Beispiel die Gespräche zwischen Mariella und Stan, haben mir sehr gut gefallen und auch die philosophischen Einschübe in Mariellas Gedankengänge haben die Geschichte bereichert und mich zum Nachdenken bewegt. Trotzdem waren die extremen und spontanen Zeitsprünge in der Erzählerperspektive eher hinderlich, um einen guten Lesefluss zu entwickeln, da man immer sehr konzentriert auf die verschiedenen Ebenen achten musste. Auch die kommentierenden Einheiten des Textes haben mich größten Teils mit Fragezeichen zurückgelassen, da nie wirklich klargestellt wurde, in wie weit diese Mariellas Einbildungen sind oder einfach eine weitere Erzählebene. Mariella selbst war mir nicht durchgehend sympathisch, da sie oft recht trotzig und stur erscheint und sie sich dort, wo man Empathie erwarten würde, dann doch eher gefühlskalt gezeigt hat. Ich denke, ich habe ihren Charakter nicht vollends verstanden, was zum einen durch die extremen Zeitsprünge, aber auch durch die diffuse Erzähltextaufteilung hervorgerufen wurde. Die Grundidee der Handlung, sich den sozialen Normen zu entziehen, um etwas Selbstverständliches wertzuschätzen, hat mich fasziniert und begeistert, aber letztendlich hat mich die sprachliche Ausführung daran gehindert, eine Beziehung zu den Charakteren aufzubauen.

Johanna, 16

Still! Von Dirk Pope

 

Erstellt: 14.04.2021 - 05:59  |  Geändert: 14.04.2021 - 06:03