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Eine Analyse der sowjetischen Außenpolitik und des „Langen Kalten Krieges“

Zusammenfassung

Dieses Dokument fasst die zentralen Thesen des Historikers Dr. Michael J. Carly zur sowjetischen und russischen Außenpolitik von 1917 bis heute zusammen. Die Kernaussage ist, dass die westliche Wahrnehmung einer aggressiven, expansionistischen Sowjetunion ein grundlegendes Missverständnis darstellt. Stattdessen war die sowjetische Außenpolitik von Anfang an primär defensiv ausgerichtet und von dem unbedingten Streben nach Sicherheit geprägt – „Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit“.

Quelle: /media/29942  |  Der 100-jährige Krieg des Westens gegen Russland

Infografik

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Wichtigste Erkenntnisse:

  1. Kontinuität der Außenpolitik: Es besteht eine bemerkenswerte Kontinuität in den außenpolitischen Zielen und Methoden vom zaristischen Russland über die Sowjetunion bis hin zur heutigen Russischen Föderation. Das Hauptanliegen war und ist die Verteidigung der riesigen und verwundbaren Landesgrenzen.
  2. Defensive Grundhaltung: Entgegen der westlichen Darstellung war die sowjetische Politik nicht auf eine weltweite Revolution, sondern auf die Wahrung nationaler Interessen und die Stabilisierung der Grenzen ausgerichtet. Die Politik der „friedlichen Koexistenz“ wurde bereits in den 1920er Jahren aus einer Position der Schwäche heraus entwickelt.
  3. Der „Lange Kalte Krieg“: Der Kalte Krieg begann nicht erst 1945, sondern bereits 1917 nach der bolschewistischen Revolution. Die Große Allianz im Zweiten Weltkrieg (1941–1945) war lediglich ein strategisches Interregnum, basierend auf dem Prinzip „Der Feind meines Feindes ist mein Verbündeter“.
  4. Vergebliche Bündnisversuche: In den 1930er Jahren unternahm die Sowjetunion unter Maxim Litwinow wiederholt und ernsthaft Versuche, mit den Westmächten (insbesondere Frankreich und Großbritannien) ein System der kollektiven Sicherheit gegen Nazideutschland zu schaffen. Diese Angebote wurden konsequent zurückgewiesen.
  5. Der Nichtangriffspakt als letzter Ausweg: Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt von 1939 war nicht die erste Wahl der Sowjetunion, sondern eine letzte Option nach sechs Jahren vergeblicher Bündnisbemühungen mit dem Westen. Er diente dem Ziel, Zeit zu gewinnen und sich aus einem unmittelbar bevorstehenden Krieg herauszuhalten.
  6. Das Trauma des „Großen Vaterländischen Krieges“: Der Zweite Weltkrieg hat mit schätzungsweise 27 Millionen Toten ein tiefes, bis heute nachwirkendes Trauma in der russischen Gesellschaft hinterlassen. Das westliche Unverständnis für die emotionale und historische Bedeutung dieses Krieges für Russland führt zu gefährlichen Fehleinschätzungen.
  7. Notwendigkeit der Quellenanalyse: Ein tiefgreifendes Verständnis der russischen Perspektive und Mentalität ist nur durch das Studium der sowjetischen und russischen Archive möglich. Eine alleinige Stützung auf westliche Quellen führt zu einem verzerrten und feindseligen Bild.

Präsentation

 

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1. Die Kernthese: Defensive Ausrichtung der sowjetischen Außenpolitik

Im Gegensatz zur weit verbreiteten Annahme, die Sowjetunion habe eine expansionistische Außenpolitik zur Förderung der Weltrevolution verfolgt, argumentiert Dr. Carly, dass das oberste Ziel stets die nationale Sicherheit war.

  • Innerer Konflikt nach der Revolution: In den 1920er Jahren gab es einen internen Machtkampf zwischen zwei Fraktionen:
    • „Genosse Komnowski“: Repräsentierte die Komintern (gegründet 1919), deren Ziel die Verbreitung der sozialistischen Weltrevolution war.
    • „Genosse Nakomindelski“: Repräsentierte das Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten (Narkomindel), das sich auf die Sicherung der nationalen Grenzen und Interessen konzentrierte.
  • Sieg der nationalen Interessen: Ende der 1920er Jahre setzte sich unter Stalin die Linie des Narkomindel durch. Die Komintern verlor an Bedeutung, und die Priorität lag fortan eindeutig auf der Sicherheit des sowjetischen Staates.
  • Kontinuität zum Zarenreich: Diese defensive Haltung ist keine Erfindung der Sowjets, sondern steht in direkter Kontinuität zur Außenpolitik des zaristischen Russlands. Carly zitiert Zar Alexander III., der gesagt haben soll: „Russland hatte keine Freunde außer seiner Armee und seiner Marine.“ Dies spiegelt das Gefühl wider, zur Verteidigung der eigenen Interessen und Grenzen auf sich allein gestellt zu sein.
  • Fokus auf Grenzsicherung: Die führenden Diplomaten der 1920er Jahre, Georgi Tschitscherin und Maxim Litwinow, konzentrierten ihre Arbeit auf die Sicherung der südlichen bzw. westlichen Grenzen der Sowjetunion. Ihr Mantra war: „Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit.“

2. Der „Lange Kalte Krieg“: Eine Neuinterpretation des 20. Jahrhunderts

Dr. Carly stellt die traditionelle Periodisierung des Kalten Krieges (1947–1991) in Frage und plädiert für das Konzept eines „Langen Kalten Krieges“, der bereits 1917 begann.

  • Ursprung 1917: Die Feindseligkeit des Westens begann unmittelbar nach der bolschewistischen Revolution. Merkmale, die gemeinhin dem Kalten Krieg nach 1945 zugeschrieben werden, waren bereits ab 1918 präsent:
    • Cordon Sanitaire: Die Politik, die Sowjetunion zu isolieren.
    • Die Rote Angst (Red Scare): Die ideologische Furcht vor der Ausbreitung des Kommunismus.
    • Propagandistische Ikonografie: Die Darstellung des Bolschewiken als „widerwärtige, schmutzig aussehende, abscheuliche Mensch mit einem Messer“ war in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg identisch mit der antisowjetischen Propaganda nach 1945.
  • Heiße Phasen und ein Interregnum: Dieser lange Konflikt hatte auch „heiße Phasen“, wie die ausländische Militärintervention in Russland von 1917 bis 1921. Die Große Allianz im Zweiten Weltkrieg (1941–1945) wird als Interregnum interpretiert, das ausschließlich auf dem strategischen Prinzip „Der Feind meines Feindes ist mein Verbündeter“ beruhte.
  • Operation Unthinkable: Als Beweis für die ungebrochene Feindseligkeit des Westens führt Carly die Operation Unthinkable an. Dies war ein von Winston Churchill im April/Mai 1945 befohlener Eventualplan für einen Krieg gegen die Sowjetunion, der im Juli 1945 beginnen sollte – noch bevor der Krieg in Europa offiziell beendet war. Carly bezeichnet diesen Plan als „Skandal“ und „Schandfleck für die Ehre der damaligen britischen Regierung“.

3. Neubewertung historischer Schlüsselereignisse

Aus der Perspektive einer defensiv orientierten Sowjetunion erscheinen viele zentrale Ereignisse des 20. Jahrhunderts in einem neuen Licht.

3.1 Die Zwischenkriegszeit: Vergebliche Suche nach kollektiver Sicherheit

  • Zwischen 1933 und 1939 war die sowjetische Regierung die erste, die die Gefahr Nazideutschlands für den europäischen Frieden erkannte.
  • Unter Außenkommissar Maxim Litwinow versuchte die UdSSR aktiv, die Beziehungen zu allen westlichen Mächten (Frankreich, Großbritannien, USA, Polen, Rumänien) zu verbessern und ein System der kollektiven Sicherheit zu etablieren.
  • Der Beitritt zum Völkerbund 1934 war ein strategischer Schritt, um diese Institution als Instrument gegen den deutschen Expansionismus zu nutzen.
  • Diese Annäherungsversuche wurden vom Westen, insbesondere von Großbritannien und Frankreich, wiederholt abgelehnt. Polen agierte in den 1930er Jahren als „Störenfried“ der kollektiven Sicherheit und lehnte jegliche Kooperation mit der UdSSR ab.

3.2 Der Deutsch-Sowjetische Nichtangriffspakt (1939)

  • Dieser Pakt war nicht die erste Wahl, sondern die letzte Option der Sowjetunion.
  • Er war die direkte Konsequenz aus sechs Jahren gescheiterter Bemühungen, ein Bündnis mit dem Westen gegen Hitler zu schmieden.
  • Stalins Kalkül im August 1939 war, dass man den Briten und Franzosen nicht trauen könne und die Sowjetunion im Falle eines Krieges allein gegen Deutschland kämpfen müsste.
  • Das Ziel des Paktes war daher nicht eine Allianz mit Nazideutschland, sondern der Versuch, Neutralität zu wahren, sich aus der Schusslinie zu halten und Zeit zu gewinnen. Stalin ging davon aus, dass die Rote Armee erst 1942 oder 1943 kriegsbereit sein würde.

3.3 Der Winterkrieg gegen Finnland (1939–1940)

  • Dieser Krieg stellt die einzige große Ausnahme von Stalins ansonsten als „äußerst risikoscheu“ beschriebener Außenpolitik dar.
  • Das strategische Ziel war rein defensiv: die finnische Grenze von Leningrad, das nur ca. 30 km entfernt lag, wegzuschieben. Die Sowjets boten im Vorfeld einen Gebietsaustausch an.
  • Dr. Carly beschreibt Stalins Haltung im Herbst 1939 metaphorisch als die eines Spielers im „Roten Stern Kasino“, der nach einer Reihe von Erfolgen glaubte, nicht mehr verlieren zu können, und den finnischen Widerstand massiv unterschätzte.
  • Obwohl die Rote Armee letztlich siegte, zeigte die sowjetische Flexibilität (die Armee hätte Finnland 1940 oder 1944 vernichten können, tat es aber nicht), dass es nicht um Eroberung, sondern um die Sicherung strategischer Interessen ging.

3.4 Die stalinistischen Säuberungen

  • Basierend auf Archivstudien wird die Zahl der Opfer der Säuberungen auf etwa 700.000 Menschen beziffert, von denen die meisten erschossen und andere in Arbeitslager geschickt wurden, wo viele starben.
  • Dr. Carly weist die These zurück, die Säuberungen seien eine präventive Maßnahme gegen eine Verschwörung des Oberkommandos der Roten Armee gewesen.
  • Er hält die wahren Motive Stalins für ein ungelöstes Rätsel: „Wer weiß das schon?“

4. Das Trauma des „Großen Vaterländischen Krieges“

Die westliche Welt, so Carly, unterschätzt die tiefgreifende und andauernde Wirkung des Zweiten Weltkriegs auf die russische Psyche und Politik fundamental.

  • Unvorstellbare Verluste: Mit schätzungsweise 27 Millionen Toten hat der Krieg in fast jeder russischen Familie Spuren hinterlassen. Die persönliche Verbindung zu den Opfern und Kämpfern ist bis heute präsent.
  • Entscheidende Rolle im Sieg: Die Rote Armee trug die Hauptlast des Kampfes gegen Nazideutschland. Schätzungen zufolge war sie für 80 % der deutschen Verluste verantwortlich und kämpfte von Juni 1941 bis Sommer 1943 allein auf dem europäischen Kontinent gegen die Wehrmacht.
  • Symbolische Bedeutung: Siege wie die Schlacht um Moskau, Stalingrad und die Operation Bagration haben einen mythischen Status, vergleichbar mit der Befreiung von der mongolischen Herrschaft im 14. Jahrhundert.
  • Westliches Unverständnis: Die westliche Tendenz, diese traumatische Erfahrung und den Stolz auf den Sieg als bloße Propaganda abzutun („Ach die tun doch nur so“), zeugt von einem tiefen Unverständnis und ist, so Carly, „sehr gefährlich“.

5. Kontinuität und die gegenwärtige westliche Fehleinschätzung

Die von Dr. Carly beschriebenen Muster setzen sich bis in die Gegenwart fort.

  • Anhaltende Russophobie: Das Problem des Westens im Umgang mit Russland ist tief verwurzelt und speist sich aus einer Mischung aus „Antikommunismus, Russophobie und der Weigerung, zu akzeptieren, dass Russland sich nicht einfach beugt“.
  • Ignoranz gegenüber russischen Quellen: Die Weigerung westlicher Analysten und Politiker, russische Archive und die russische Perspektive ernsthaft zu studieren, führt zu einer ständigen Wiederholung von Fehlinterpretationen. Carlys Appell ist unmissverständlich: „Man muss sie lesen, wenn man die russische Mentalität und ihre Perspektiven verstehen will. [...] Wenn man es nicht tut, ist man auf dem Weg ins Verderben.“
  • Gefährliche Politik: Die Rhetorik aktueller europäischer Führer wird als Fortsetzung der fehlerhaften Politik der Vergangenheit gesehen. Carlys Urteil über Europas Umgang mit Russland ist vernichtend: „Ständig vermasseln sie es. [...] Sie spielen mit dem Feuer.“

Quelle 

Der 100-jährige Krieg des Westens gegen Russland
Neutrality Studies Deutsch YouTube (13.12.2025)

Erstellt: 14.12.2025 - 10:56  |  Geändert: 14.12.2025 - 14:06