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Antiimperialistische Erneuerung im Zeitalter des olivgrünen Kapitalismus
Vortrag von Dr. Lukas Meisner – auf der Hacks-Konferenz 2025. Ein Zusammenfassung mittels NotebookLM
Einleitung: Die Gretchenfrage des Marxismus und die Notwendigkeit einer Neuausrichtung
Die westliche Linke befindet sich in einer Phase tiefgreifender strategischer Orientierungslosigkeit. Konfrontiert mit einer neuen, aggressiven Phase des autoritären und militarisierten Kapitalismus – einem „olivgrünen Kapitalismus“ – versagen alte Gewissheiten und politische Reflexe. In dieser Situation erweist sich die Auseinandersetzung mit dem Imperialismus als die zentrale „Gretchenfrage“ für jede linke Politik, die den Anspruch auf Relevanz nicht aufgeben will. Dieses Dokument liefert auf der Grundlage der scharfsinnigen Analysen von Lukas Meisner und den theoretischen Interventionen von Peter Hacks eine präzise Diagnose der Gegenwart. Es formuliert daraus abgeleitet konkrete strategische Eckpunkte für eine Erneuerung sozialistischer und antiimperialistischer Politik und soll damit eine fundierte Grundlage für die überfällige strategische Debatte schaffen.
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TEIL I: DIAGNOSE DER GEGENWART – Anatomie einer multiplen Krise
1. Die Blindheit der westlichen Linken: Ein Versagen an der Imperialismusfrage
Jede wirksame strategische Erneuerung beginnt mit einer ehrlichen und schonungslosen Selbstkritik. Die Unfähigkeit, die eigene Verstrickung in hegemoniale Diskurse zu erkennen und zu durchbrechen, ist das größte Hindernis für eine handlungsfähige Linke. Die Analyse der Defizite der westlichen Linken ist daher kein Selbstzweck, sondern der notwendige Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Politik, die den Herausforderungen unserer Zeit gewachsen ist. Ihre gegenwärtige Haltung ist von einer Reihe tiefgreifender Fehlurteile geprägt:
- Der fatale Irrglaube: Ein zentrales Defizit manifestiert sich in der These, die westliche Linke glaube fälschlicherweise, sie könne „rassismuskritisch sein, ohne antiimperialistisch zu werden“. Diese Entkopplung zweier untrennbar miteinander verbundener Herrschaftsformen führt zu einer oberflächlichen und letztlich systemstabilisierenden Kritik, die die ökonomischen Wurzeln globaler Ungleichheit und Gewalt ausblendet.
- Westliche Borniertheit: Diese Haltung wird treffend als „westlich borniert“ charakterisiert. Indem sie die eigene geopolitische Position unreflektiert lässt, verkommt die Linke in Teilen zur „Stichwortgeberin der deutschen Staatsräson“. Sie übernimmt Narrative des Westens und verliert ihre Fähigkeit zur unabhängigen, materialistischen Analyse der globalen Machtverhältnisse.
- Der neue Kriegstaumel: Die Eliten, die sich selbstironisch als „linksgrün versifft“ bezeichnen, befinden sich in einem regelrechten „Kriegstaumel“. Anders als 1914, als noch für einen fehlgeleiteten „Vitalismus der Erneuerung“ einer als dekadent empfundenen Kultur mobilisiert wurde, kämpft man heute für einen leeren „Moralismus einer US-inspirierten Verteidigung von Freedom and Democracy“. Dieser qualitative Verfall vom energiegeladenen, wenn auch reaktionären Projekt zur hohlen, defensiven Phraseologie verrät eine tiefe ideologische Kapitulation vor dem imperialistischen Zentrum und macht sie zu Agenten einer eskalierenden Kriegslogik.
Dieser Kriegstaumel ist kein Zufall, sondern der politische Ausdruck einer neuen Phase kapitalistischer Akkumulation, die es zu benennen und zu analysieren gilt.
2. Vom grünen zum olivgrünen Kapitalismus: Die neue Phase der Eskalation
Die korrekte Benennung und Analyse des aktuellen Akkumulationsregimes ist von entscheidender strategischer Bedeutung. Nur wenn wir verstehen, wie das Kapital heute seine Krisen zu bewältigen versucht, können wir effektive Gegenstrategien entwickeln. Der Begriff des „olivgrünen Kapitalismus“ beschreibt die gegenwärtige Realität dabei treffender als ältere Konzepte, denn er erfasst den ideologischen Umschlag, der ihn ermöglichte: Der „kapitalistische Realismus“ der progressiv-neoliberalen Ära ist in einen „kapitalistischen Nihilismus“ des autoritären Neoliberalismus übergegangen. Für diesen gilt: Das Ende der Welt ist nicht nur leichter vorstellbar, sondern auch leichter praktizierbar als das Ende des Kapitalismus.
Der „olivgrüne Kapitalismus“ ist das Resultat dieser Entwicklung:
- Die abgelöste Hoffnung: Nachdem es einige Jahre so aussah, als würde die EU sich auf einen „moralisch aufgeplusterten grünen Kapitalismus“ zubewegen, wurde diese Hoffnung von der Realität eingeholt. Die politische Konsequenz dieser Entwicklung ist brutal und simpel: „statt Straßenbahnen werden in Europa seither Panzer gebaut“.
- Die ökonomische Logik: Die ökonomische Rationalität hinter dieser Wende ist die Tatsache, dass China die EU realwirtschaftlich „in Sachen Ökologie mittlerweile überholt“ hat. Da eine zivile ökonomische Konkurrenz auf diesem Feld nicht mehr aussichtsreich erscheint, wird der „Bellizismus zum Blühen gebracht“. Der Rückgriff auf militärische Macht soll ökonomische Schwächen kompensieren.
- Die Konsequenz: Diese Entwicklung bestätigt eine Kernthese des Marxismus-Leninismus: Der Imperialismus als ökonomisches Stadium des Kapitalismus führt politisch in den Faschismus. Die düstere Schlussfolgerung für unsere Gegenwart lautet: „das letzte Stadium des Kapitalismus scheint zunehmend zum [...] potenziell letzten des Menschen zu werden“.
Dieses Phänomen ist jedoch keine isolierte europäische Entwicklung, sondern muss im größeren Kontext der strukturellen Logik des kapitalistischen Weltsystems verstanden werden.
3. Das kapitalistische Weltsystem: Eine Landkarte der Macht
Ein strategisches Verständnis der gegenwärtigen Hegemoniekonflikte ist unmöglich ohne eine Analyse der historischen und strukturellen Logik des Kapitalismus als Weltsystem. Dieses ist durch die Hierarchie von Zentren und Peripherien sowie durch den zyklischen Wechsel von hegemonialen Mächten gekennzeichnet, wobei die Hegemonie in der Regel durch militärischen Sieg errungen wird: „erstens die Niederlande, die über Spanien gesiegt hat, zweitens das British Empire, indem es über Frankreich siegte, und drittens die USA, indem sie über Deutschland und Japan siegte“. Die folgende Tabelle skizziert diese Periodisierung:
| Phase | Akkumulationsregime | Hegemoniales Zentrum | Politische Form |
| Frühe Moderne | Merkantilismus | Niederlande | Absolutismus |
| Hochmoderne | Wirtschaftsliberalismus | British Empire | Bürgerliche Revolutionen |
| Spätmoderne | Keynesianismus | USA | Sozialdemokratie |
| Postmoderne | Neoliberalismus | USA (im Übergang?) | Refaschisierung |
In diesem longue durée-Blick wird deutlich, dass liberale Demokratien in der kapitalistischen Geschichte ein Ausnahmephänomen seiner politischen Form sind. Entgegen der bürgerlichen Selbstdarstellung, die Demokratie als Normalzustand verklärt, erweist sie sich als eine historisch spezifische und fragile Konstellation, während autoritäre und absolutistische Formen die Regel darstellen.
Der postmoderne Kapitalismus lässt sich seinerseits in zwei Phasen unterteilen: eine frühe, „progressive“ Phase (ca. 1973–2008) und eine späte, autoritäre Phase seither. Die ökonomische Logik dieser Entwicklung wurde von David Harvey als „Accumulation by Dispossession“ (Akkumulation durch Enteignung) beschrieben. William I. Robinson ergänzt dies für die heutige Phase treffend um den Begriff der „Accumulation by Destruction“ (Akkumulation durch Zerstörung). Das System ergänzt also das Prinzip des „Workfare“ (Arbeitszwang) um das des „Warfare“ (Kriegsführung).
Die zerstörerische Endlogik dieses Systems ergibt sich aus dem unauflöslichen Zusammenhang von Imperialismus, Nihilismus und Faschismus.
4. Die innere Logik der Zerstörung: Imperialismus, Nihilismus und Faschismus
Um die politische Dynamik der Gegenwart zu durchschauen, ist es entscheidend, die psychologischen und kulturellen Mechanismen zu verstehen, die das Bürgertum reaktionär und destruktiv werden lassen. Die marxistisch-leninistische Analyse des Imperialismus deckt hier eine unerbittliche Kausalkette auf:
- Monopol und Stagnation: Der Monopolcharakter des Imperialismus führt, wie Lenin analysierte, zwangsläufig zu „Stagnation und Fäulnis“. Die Dynamik der freien Konkurrenz weicht der Sicherung von Monopolrenten, was Innovationen hemmt und parasitäre Züge im ökonomischen System verstärkt.
- Dekadenz des Bürgertums: Diese ökonomische Stagnation untergräbt die ideologische Hegemonie der Bourgeoisie. Das Bürgertum, das den Glauben an sein eigenes historisches Projekt des Fortschritts verloren hat – eine Analyse, die sich in erster Linie auf Lukács' Theorie dazu bezieht –, wird reaktionär und verfällt einem tiefen Nihilismus. In den Worten von Peter Hacks folgt aus der „Reinigung der Welt von allen nicht kommerziellen Werten“ der unausweichliche „Zwang zu Dummheit, Lüge, Medien“.
- Von der Destruktivität zur Faschisierung: Dieser kulturelle und moralische Nihilismus mündet in eine „Enthemmung zerstörerischer Impulse“. Der Faschismus wird dabei primär als „abwehrender Antikommunismus“ verstanden, der die Herrschaft der Monopole mit terroristischen Mitteln gegen jede emanzipatorische Alternative absichert. Auflösung wird zur Haupttätigkeit des Systems. Wie Hacks es formuliert: „Auflösung die Haupttätigkeit des reinen Imperialismus.“
- Die heutige Faschisierung: Im Unterschied zur klassischen Faschisierung des 20. Jahrhunderts resultiert die heutige Tendenz weniger aus der Abwehr einer konkreten und starken kommunistischen Gefahr im Westen. Sie ist vielmehr ein direktes Resultat der „Polikrise des Kapitalismus“ selbst, der in seiner Agonie zu immer autoritäreren und destruktiveren Mitteln greifen muss, um sich zu reproduzieren.
Angesichts dieser düsteren Diagnose stellt sich die Frage, wie eine linke Gegenstrategie aussehen kann. Die theoretische Intervention von Peter Hacks bietet hierfür einen entscheidenden Schlüssel.
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TEIL II: STRATEGISCHE NEUAUSRICHTUNG – Von der Analyse zur Praxis
5. Das Hacks'sche Korrektiv: Überwindung der falschen Alternativen
Eine wirksame linke Strategie erfordert die Fähigkeit, falsche Dichotomien zu durchschauen. Dies gilt insbesondere für die vermeintliche Alternative zwischen Neoliberalismus und Keynesianismus, eine ideologische Falle, die weite Teile der Linken paralysiert. Die Intervention von Peter Hacks ist hier von fundamentaler Bedeutung, denn sie dekonstruierte die gesamte nicht-marxistische linke Kapitalismustheorie der vergangenen 50 Jahre.
Die Kernthese von Hacks zur Imperialismustheorie lässt sich in seiner prägnanten Frage und Antwort zusammenfassen:
„Ist Imperialismus gleich Neoliberalismus oder gleich Staatsmonopolkapitalismus? [...] nein, beides ist von Anfang an immer dasselbe nur in wechselnden Phasen oder Mischungen.“
Diese Einsicht ist für die Analyse der Gegenwart von unschätzbarem Wert. Die aktuelle Politik ist keine Abkehr vom Neoliberalismus, sondern eine autoritäre Synthese beider Elemente, die je nach Klassenadressat unterschiedlich zur Anwendung kommen:
- Neoliberalismus für die Armen: Durch eine rigide monetaristische Austeritätspolitik, symbolisiert durch die „schwarze Null“, wird der Sozialstaat systematisch ausgehöhlt und die breite Masse der Bevölkerung diszipliniert.
- Keynesianismus für die Reichen: Gleichzeitig werden in klassisch antizyklischer Manier gigantische Kredite für den Krieg an die Rüstungslobby und den militärisch-industriellen Komplex vergeben.
- Die profitable Trias des Krieges: Die scheinbar unproduktive Kriegsmaschinerie folgt einer zutiefst kapitalistischen Logik. „Aufrüstung, Kriege, Wiederaufbau“ bilden eine hochprofitable, wenn auch zutiefst destruktive Trias für das Monopolkapital. Im Sinne einer pervertierten Version von Schumpeters „schöpferischer Zerstörung“ schafft der Krieg durch Destruktion erst die notwendige Bedingung für ein neues „Wirtschaftswunder“.
Die Erkenntnis dieser inneren Einheit von neoliberaler Austerität und keynesianischer Kriegswirtschaft muss die Grundlage für die Formulierung konkreter politischer Forderungen und strategischer Imperative sein.
6. Imperative für eine sozialistische Friedenspolitik
Die strategische Hauptaufgabe besteht darin, den Begriff des Friedens aus der bürgerlichen Vereinnahmung zu befreien und ihn als Kern einer sozialistischen und antiimperialistischen Agenda neu zu definieren. Ein solcher Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg; er ist die Abwesenheit von Ausbeutung und Unterdrückung. Aus der vorangegangenen Analyse ergeben sich drei zentrale strategische Imperative.
6.1. Den kapitalistischen Realismus durchbrechen
Die Überwindung des „kapitalistischen Realismus“ – des tief verankerten Glaubens, „eher würde die Welt untergehen als dass der Kapitalismus abschaffbar wäre“ – ist die zentrale ideologische Aufgabe. Solange diese Perspektivlosigkeit vorherrscht, verpufft politische Energie in apokalyptischem Zynismus oder systemkonformer Symptombekämpfung. Die Wiederbelebung einer konkreten, greifbaren emanzipatorischen Perspektive ist die Voraussetzung für jede Mobilisierung.
6.2. Die Idee des Kommunismus als regulatives Ideal verteidigen
Die „Idee des Kommunismus“ ist trotz ihrer historischen Belastungen und der reflexhaften bürgerlichen Abwehr („Gulag!“) strategisch unverzichtbar. Sie fungiert als „regulatives Ideal“ (Kant), das die Richtung des Kampfes vorgibt, und entfaltet als solches eine „materielle Gewalt“. Der Begriff des Sozialismus allein reicht nicht aus, da er Gefahr läuft, auf ein bloßes Reparaturprojekt am Bestehenden reduziert zu werden. Die kommunistische Idee liefert die motivationale Kraft für einen Kampf, der die Überwindung des Kapitalismus und nicht nur seine Verwaltung zum Ziel hat. Ihre Verteidigung ist ein Akt theoretischer Notwendigkeit gegen den herrschenden Zynismus.
6.3. Friedenstüchtigkeit statt Kriegstüchtigkeit
Dem imperialistischen „Bellizismus“ muss ein sozialistisches Konzept der „Friedenstüchtigkeit“ entgegengestellt werden. Die Linke muss die Restauration der „Kriegstüchtigkeit“ als „erste deutsche Tugend“ kompromisslos bekämpfen. An ihre Stelle muss eine Politik treten, deren oberstes Ziel die Sicherung der „Bedingungen der Möglichkeit von Zukunft“ ist. Das bedeutet eine Politik der Deeskalation, der Abrüstung und der internationalen Kooperation anstelle von Blockkonfrontation und Aufrüstung.
Diese Imperative bündeln sich in der Erkenntnis, dass der Kampf um den Frieden und der Kampf um den Sozialismus heute untrennbar miteinander verbunden sind.
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Schlussfolgerung: Die eigentliche friedliche Revolution oder die Barbarei
Die Diagnose ist eindeutig: Der olivgrüne Kapitalismus treibt die Welt in eine neue Ära imperialistischer Konfrontation. Die Blindheit weiter Teile der westlichen Linken gegenüber der Imperialismusfrage macht sie unfähig, dieser Entwicklung wirksamen Widerstand entgegenzusetzen. Eine strategische Erneuerung ist nur möglich, wenn sie auf einer klaren antiimperialistischen Analyse, der Überwindung falscher Alternativen und der Wiederbelebung einer sozialistischen Zukunftsperspektive basiert.
Thomas Mann warnte bereits 1955 vor einer „Regression des Menschlichen“ und der Gefahr, dass ein dritter Weltkrieg „alles beenden würde“. Diese Warnung ist heute von beklemmender Aktualität. Die Alternative, vor der wir stehen, ist unerbittlich. Die „eigentliche friedliche Revolution“, eine Revolution für den Frieden und das Überleben der Menschheit, kann letztendlich „erst als sozialistische gelingen“, um die Welt vor der post- bis spätmodernen Barbarei zu bewahren.
Vortrag von Dr. Lukas Meisner
Erstellt: 13.12.2025 - 14:24 | Geändert: 14.12.2025 - 14:31
