Archiv für Sozialgeschichte, Band 1 (1961)

5 Weisser, Gerhard: Vorwort
9 Mayer, J. P.: Alexis de Tocqueville
19 Klein, Johannes: Ästhetische und soziologische Literaturbetrachtung
27 Hirsch, Helmut: Die Berliner Welcker-Kundgebung
43 Koszyk, Kurt: Carl D'Ester als Gemeinderat und Parlamentarier (1846-1849)
61 Schüddekopf, Otto-Ernst: Bürgerliche Geschichtsschreibung und materialistische Geschichtsauffassung um 1850
69 Hellfaier, Karl-Alexander: Die sozialdemokratische Bewegung in Halle/Saale <1865-1890>
109 Zum Streit um die Dampfersubvention
119 Müller, Kurt: Die wirtschaftspolitischen Ziele der Sowjetunion
177 Geiss, Imanuel: Zur Struktur der industriellen Revolution
203 Die Mitarbeiter des Bandes
207 Inhalt
Briefing-Dokument: Zentrale Themen und Analysen
Zusammenfassung
Dieses Dokument synthetisiert zentrale Themen aus den Sozial-, Politik- und Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, basierend auf einer Reihe von Fachtexten. Die Analyse offenbart mehrere Kernthesen:
- Die Etablierung der Sozialgeschichte: Die Gründung des Archivs für Sozialgeschichte durch die Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 1961 markiert einen Wendepunkt in der deutschen Geschichtswissenschaft. Sie signalisiert ein wachsendes Interesse an den sozialen Bewegungen, der Rolle ökonomischer Strukturen und der Lebenswirklichkeit breiter Bevölkerungsschichten – Themen, die von der traditionellen Geschichtsforschung lange vernachlässigt wurden. Methodisch wird ein interdisziplinärer Ansatz verfolgt, der Soziologie und Wirtschaftswissenschaften einbezieht und die „weltanschauliche“ Bedingtheit historischer Forschung anerkennt.
- Ideengeschichtliche Kontinuitäten des 19. Jahrhunderts: Die Analysen von Alexis de Tocqueville und Karl Marx zur Demokratie, Gleichheit, Klasse und Staatsmacht behalten ihre ungebrochene Relevanz. Tocqueville antizipierte mit seiner idealtypischen Methode die Gefahren einer allumfassenden, zentralisierten Staatsgewalt, die aus dem Streben nach Gleichheit erwächst und die individuelle Freiheit bedroht. Parallel dazu entwickelten bürgerliche Denker wie Georg Wilhelm von Raumer bereits um 1850 eine materialistische Geschichtsauffassung, die – unabhängig von Marx – politische Umwälzungen als direkte Folge veränderter ökonomischer Produktionsweisen (z. B. durch den Kartoffelanbau in der preußischen Landwirtschaft) interpretierte.
- Frühe demokratische und liberale Bewegungen: Die politische Kultur des Vormärz und der Revolution von 1848/49 war geprägt von einem intensiven Ringen um bürgerliche und politische Freiheiten. Dieses manifestierte sich sowohl in öffentlichen Protesten, wie der Berliner Welcker-Kundgebung von 1841, die eine spontane Volksdemonstration für einen liberalen Vorkämpfer darstellte, als auch im parlamentarischen Wirken radikaler Demokraten wie Carl d’Ester. Diese Bewegungen wurden von staatlicher Repression begleitet, die von polizeilicher Überwachung über Berufsverbote bis hin zur Ausweisung reichte.
- Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie: Die Geschichte der Arbeiterbewegung, hier am Beispiel von Halle/Saale (1865–1890) dargestellt, zeigt eine bemerkenswerte organisatorische Resilienz. Trotz interner Spaltungen (Lassalleaner vs. Eisenacher) und staatlicher Unterdrückung durch das Sozialistengesetz gelang es der Bewegung, durch verdeckte Strukturen (z. B. Gesangs- und Fachvereine) und die konsequente Nutzung der Reichstagswahlen ihre Basis stetig zu verbreitern. Interne Konflikte über die richtige politische Taktik, wie der heftige Streit um die Zustimmung zu den Dampfersubventionen 1885, offenbaren die ideologischen Spannungen zwischen parlamentarischer Realpolitik und revolutionärer Prinzipientreue.
- Wirtschaftlicher Wettbewerb im Kalten Krieg: Die wirtschaftspolitische Strategie der Sowjetunion, verkörpert durch den Siebenjahresplan (1959–1965), leitet eine neue Phase der Auseinandersetzung zwischen Ost und West ein. Ziel ist es, durch eine massive technologische Modernisierung, die Umstellung der Energiebasis und die forcierte Industrialisierung der Ostgebiete die USA bis 1970 in Pro-Kopf-Produktion und Lebensstandard zu überholen. Diese Offensive wird flankiert durch die wirtschaftliche Integration des Ostblocks mittels Arbeitsteilung und Plan-Koordinierung sowie eine gezielte Außenhandels- und Wirtschaftshilfepolitik zur Gewinnung der Entwicklungsländer in Asien, Afrika und Lateinamerika für die „Zone des Friedens“.
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1. Sozialgeschichte als Wissenschaftsdisziplin: Das Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung
Das im Jahr 1961 von der Friedrich-Ebert-Stiftung ins Leben gerufene Archiv für Sozialgeschichte stellt eine programmatische Antwort auf eine lange bestehende Lücke in der deutschen Geschichtsforschung dar. Es widmet sich der systematischen Erforschung sozialhistorischer Fragestellungen, mit einem besonderen Fokus auf die sozialen Bewegungen der Neuzeit und Gegenwart.
Ziele und programmatische Ausrichtung:
- Pflege des demokratischen Gedankens: Die Herausgabe des Archivs ist Teil der umfassenderen Stiftungsarbeit zur Förderung von Forschung im Dienste der Demokratie.
- Schließung einer Forschungslücke: Das Vorwort von Gerhard Weisser konstatiert, dass die Geschichtsforschung sozialgeschichtliche Themen lange vernachlässigt hat. Erst in jüngerer Zeit sei ein zunehmendes Interesse an diesen Gebieten an den Hochschulen und in der Forschung zu verzeichnen.
- Interdisziplinarität: Das Archiv fördert den Kontakt zwischen Geschichtswissenschaft, Soziologie und Wirtschaftswissenschaft. Obwohl es traditionell Meinungsdifferenzen gab (wie der Streit zwischen Max Weber und Georg von Below zeigt), setzt sich die Einsicht durch, dass sich die Disziplinen bei der Erforschung desselben Gegenstandes ergänzen müssen.
- Fokus auf soziale Bewegungen: Ein Schwerpunkt liegt auf der Analyse sozialer Bewegungen. Die Forschung soll über die Untersuchung großer Theoretiker und offizieller Programmatiken hinausgehen und das Quellenmaterial erschließen, das die „tatsächliche Rolle dieser geistigen Kräfte im sozialen Leben“ und deren geschichtlichen Wandel sichtbar macht.
- Analyse der Zeitgeschichte: Es besteht das intensive Bedürfnis, die Forschung bis in die jüngste Vergangenheit des 20. Jahrhunderts voranzutreiben. Dies soll anhand sorgfältig entwickelter Hypothesen über den Gesamtverlauf des sozialen Geschehens geschehen, um eine bloße Ansammlung von Dokumenten zu vermeiden.
- Kritische Auseinandersetzung: Das Archiv will der „bedrohlichen Verfälschung der geistigen Vorgänge im Leben der deutschen Arbeiterschaft“ entgegenwirken, die im unter sowjetischem Einfluss stehenden Teil Deutschlands betrieben wird, aber auch Verfälschungen in anderen Teilen der Welt, einschließlich der Bundesrepublik, kritisieren.
Methodische Grundsätze und Programm:
- Anlehnung an das Grünbergsche Archiv: Das Programm orientiert sich in vielerlei Hinsicht am Vorbild des von Carl Grünberg begründeten Archivs für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung.
- Breiter Begriff der Arbeiterbewegung: Ein besonderer Nachdruck liegt auf der Geschichte der deutschen und europäischen Arbeiterbewegung, wobei dieser Begriff in einem sehr weiten Sinn verstanden wird. Dies schließt die Untersuchung ein, inwieweit in der Mitte des 20. Jahrhunderts noch von einer Arbeiterbewegung gesprochen werden kann.
- Vergleichende Perspektive: Die Geschichte vergleichbarer sozialer Bewegungen und Theorien in Amerika, der Sowjetunion sowie in Entwicklungsländern wird Gegenstand vergleichender Betrachtungen sein.
- „Weltanschauliche“ Bedingtheit der Forschung: Der Verfasser des Vorworts räumt ein, dass die Auswahl des Forschungsgegenstandes unlöslich mit „außerempirischen Grundentscheidungen des Forschers“ zusammenhängt. Historiker mit unterschiedlichen Grundeinstellungen werden verschiedene Stoffe als forschungswürdig erachten. Dies wird jedoch nicht als Nachteil, sondern als Quelle für „gegenseitige Anregung“ gesehen, solange die Forschung dem Streben nach Wahrheit verpflichtet bleibt.
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2. Analyse politischer Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts
Alexis de Tocqueville: Soziologie der Demokratie und des Staates
J. P. Mayers Analyse würdigt Alexis de Tocqueville als einen der erstrangigen politischen Schriftsteller, dessen Werk auch ein Jahrhundert nach seinem Tod (1859) von zentraler Bedeutung für das Verständnis moderner Politik ist. Seine wahre Größe zeigte sich insbesondere in den 1840 erschienenen letzten beiden Bänden von Die Demokratie in Amerika.
Die idealtypische Methode:
- Tocqueville entwickelte eine soziologische Methode, die Max Weber später erfolgreich anwandte: die idealtypische Methode.
- Er ging von den konkreten Beobachtungen in der amerikanischen und französischen Gesellschaft aus, um „allgemeine Züge demokratischer Gesellschaften zu zeichnen, von denen noch kein vollständiges Modell existiert“.
- Diese Methode, bei der ein soziologischer Begriff von historischer Realität durchdrungen und zugleich typisiert wird, verleiht seinem Werk seinen „gegenwartsgeladenen Charakter“. John Stuart Mill erkannte dies, als er schrieb, Tocquevilles Buch konstituiere den „Anfang einer neuen Ära im wissenschaftlichen Studium der Politik“.
Analyse der Demokratie und ihrer Gefahren:
- Gleichheit versus Freiheit: Tocqueville analysiert die Dialektik von Gleichheit und Freiheit. Die demokratische Revolution strebte nach Freiheit, um Gleichheit zu schaffen. Doch sobald die Gleichheit etabliert ist, wird die Freiheit selbst in Frage gestellt: „in dem Maße, in dem sich die Gleichheit mit Hilfe der Freiheit verfestigt, wird die Freiheit selbst in Frage gestellt.“
- Die neue Gesellschaftsform: Er beschreibt prophetisch die moderne Massengesellschaft als eine Ansammlung „ähnlicher und gleicher Individuen“, die sich „seichten und vulgären Vergnügen“ hingeben.
- Die bevormundende Staatsgewalt: Über diesen Individuen thront eine zentralisierte, bevormundende Gewalt, die ihre Sicherheit garantiert, ihre Bedürfnisse voraussieht, ihre Industrien lenkt und ihnen „nur noch die Mühe des Denkens und des Lebens abzunehmen“ hat. Dieser von Tocqueville noch unbenannte moderne Staat – Mayer fragt, ob „Manager-Staat“ ein passender Begriff wäre – ist weit davon entfernt, „abzusterben“. Seine Funktionen und die Zahl seiner Beamten nehmen stetig zu.
Vergleich mit Karl Marx:
Obwohl Tocqueville Marx offenbar nicht kannte, während Marx Tocquevilles Werk las, gibt es wesentliche Gemeinsamkeiten und fundamentale Unterschiede.
- Gemeinsamkeiten:
- Fokus auf Klassen: Beide sehen Klassen als zentrale Akteure der Geschichte. Tocqueville: „Ich spreche von Klassen; sie allein sollten die Geschichte beschäftigen.“ Marx: „Alle bisherige Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“
- Permanente Revolution: Beide betrachten die Französische Revolution von 1789 nur als eine Phase in einer fortdauernden sozialen Revolution.
- Unterschiede:
- Die klassenlose Gesellschaft: Marx sieht in der klassenlosen Gesellschaft die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit. Tocqueville hingegen warnt, dass in einer Gesellschaft ohne Kasten und Klassen, in der alle Bürger an Bildung und Gütern ungefähr gleich sind, der „Geist der Individualität ist fast zerstört“ wird. Die Gefahr der Zerstörung der Individualität gefährdet für ihn die Freiheit.
- Historischer Determinismus vs. Realsoziologie: Tocqueville verurteilt „absolute Systeme“, die den gesamten Gang der Geschichte von großen Grundursachen abhängig machen und die Menschen aus der Geschichte streichen. Seine Soziologie ist eine „Realsoziologie der gesellschaftlich-geschichtlichen Prozesse“. Er bleibt skeptisch gegenüber schematischen sozialen Zielvorstellungen.
- Der Staat: Während der Marxismus das utopische „Absterben des Staates“ lehrt, liefert Tocqueville eine präzise Beschreibung der Substanz des modernen, zentralisierten Verwaltungsstaates.
Tocquevilles politisches Ziel:
Sein Hauptanliegen war es, institutionelle Maßnahmen zu entwerfen, um das „seelische Sein der Menschen zu garantieren“ und die Werte der Individualität mit dem neuen massendemokratischen System abzustimmen. Eine mögliche Lösung sah er im britischen Staatsleben, das drei wesentliche Züge vereinte:
- Eine starke Zentralregierung bei gleichzeitig kräftiger lokaler Autonomie.
- Ein völlig unabhängiges Rechtswesen.
- Eine offene Aristokratie, die dem Volk nahe bleibt.
Bürgerliche Geschichtsschreibung und materialistische Geschichtsauffassung
Otto-Ernst Schüddekopf analysiert die Thesen des preußischen Adeligen und Archivdirektors Georg Wilhelm von Raumer, der um 1850 eine materialistische Geschichtsauffassung entwickelte, die in ihren Grundzügen der von Marx und Engels ähnelt, jedoch unabhängig von diesen entstand.
Raumers zentrale Thesen (formuliert im Vorwort zu seiner Schrift von 1851):
- Primat der Ökonomie: „Alle politischen Veränderungen [sind] nur Folgen der veränderten Erwerbs- und Lebensweise der Menschen und der durch umgestaltete Verkehrsverhältnisse anders gewordenen Stellung der verschiedenen Klassen.“
- Die „totale Revolution“ in der Landwirtschaft: Raumer identifiziert den Wandel in der Landwirtschaft seit dem 18. Jahrhundert als treibende Kraft. Die Einführung des Klee- und insbesondere des Kartoffelbaus führte zur Aufgabe der uralten Dreifelderwirtschaft.
- Soziale Folgen des Wandels:
- Entstehung eines ländlichen Proletariats: Es entstand eine zahlreiche Klasse von „Nichteigentümern“ (Büdner und Einlieger) neben den traditionellen Bauern.
- Ende der Feudalordnung: Diese neue, auf dem Kartoffelbau basierende Bevölkerung machte die alten Hofedienste überflüssig. Dies führte zur Aufhebung der bäuerlichen Untertänigkeit und trieb die Gutsbesitzer in die Geldwirtschaft und die „rationelle Landwirtschaft“.
- Politische Konsequenzen: In diesem ökonomischen Wandel sieht Raumer eine „Hauptursache des politischen Umschwunges der Gegenwart“. Die Stein-Hardenbergische Gesetzgebung war für ihn nicht die Ursache, sondern eine notwendige Folge dieser bereits eingetretenen veränderten Produktionsverhältnisse.
- Allgemeines Geschichtsgesetz: Raumer verallgemeinert seine Beobachtungen: „Aus den geänderten gesellschaftlichen und Erwerbsverhältnissen [...] gehen mit der Zeit allemal die größten politischen Umwälzungen der Staaten hervor.“ Er kritisiert Historiker, die sich nur mit Rechtsgeschichte befassen, da alle Staatseinrichtungen letztlich „nur Resultate der jeweiligen Zustände der Gesellschaft sind“.
- Rolle der Ideen: Er leugnet die Macht geistiger Bewegungen nicht, betont aber, dass diese „meistenteils entweder durch materielle Veränderungen in der Gesellschaft eingeleitet, oder daß sie von solchen begleitet und durch sie getragen werden müssen“.
Raumers Position und Einordnung:
- Wissenschaftliche Unabhängigkeit: Raumer war Marx und Engels offenbar unbekannt und umgekehrt. Seine Thesen entwickelte er bereits 1837 im Vorwort zum Neumärkischen Landbuch. Er gehört in den Kontext der deutschen historischen Rechtsschule (als Schüler Eichhorns) und des konservativen preußischen Adels.
- Abgrenzung zum Sozialkonservatismus: Im Gegensatz zu sozial-konservativen Reformern hatte Raumer keinen politischen Gestaltungsanspruch. Er wollte erkennen, nicht verwandeln.
- Die „bange Frage“ an die Zukunft: Raumer schließt seine Analyse mit der Frage, ob sich ein Stand „rationell, den Ackerbau selbst betreibenden größeren Gutsbesitzer“ halten könne und wie sich das Verhältnis zur „eigentumslosen und tagelohnenden Klasse“ gestalten werde. Er endet mit einem resignierten Hinweis auf das mögliche Heraufkommen des Despotismus und die Allmacht Gottes.
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3. Formen politischer und literarischer Auseinandersetzung im Vormärz
Die Berliner Welcker-Kundgebung von 1841
Helmut Hirschs Darstellung dokumentiert eine bedeutende liberale Demonstration im vormärzlichen Berlin, die die wachsende politische Unruhe und die Methoden staatlicher Repression verdeutlicht. Ende September 1841 reiste der Freiburger liberale Professor Carl Theodor Welcker durch Norddeutschland und wurde in Leipzig und Dresden bereits mit Ehrungen empfangen.
Ablauf der Demonstration in Berlin (28. September 1841):
- Organisation: Ein „Verein wissenschaftlich gebildeter Männer“, zweifellos der junghegelsche Doktorklub, organisierte eine Serenade für Welcker vor dessen Hotel „Zum Kronprinzen“.
- Musikalische Symbolik: Die Kapelle der Gardeartillerie spielte die Ouvertüre zu Aubers Oper Die Stumme von Portici, einem bekannten Revolutionsstück. Die Genehmigung für die Musik wurde durch einen Trick erlangt, indem man den Behörden vorspiegelte, das Ständchen gelte dem Gastwirt.
- Öffentliche Versammlung: Die Musik zog eine große Menschenmenge an, die die Straßen füllte. Der Literat Dr. Rutenberg rief ein „donnerndes Lebehoch“ auf Welcker aus, in das die „tausendstimmige“ Menge einstimmte.
- Welckers Rede: Welcker hielt eine „freie, kühne Rede“ aus dem Fenster, in der er an die Preußen appellierte, auch im Kampf um die bürgerliche Freiheit voranzugehen, damit Deutschland die ihm zustehende „Höhe der Macht, des Glanzes und des Glücks“ erreiche.
- Fortsetzung: Die Demonstration dauerte bis Mitternacht, wobei Lieder wie „Was ist des Deutschen Vaterland?“ und „Freiheit, die ich meine“ gesungen wurden. Die intellektuellen Organisatoren setzten die Feier mit Welcker bei einem Gelage bis zum Morgen fort. Die Kundgebungen wiederholten sich am folgenden Abend.
Die Akteure und Beteiligten:
- Hauptakteure: Die Polizei identifizierte sieben Hauptorganisatoren, darunter die Doktoren Rutenberg, Mügge, Zabel, Bruno Bauer und Riedel.
- Deputation: Eine dreiköpfige Deputation (Zabel, Rutenberg, Mügge) überbrachte Welcker die Grüße der Versammelten persönlich.
- Bruno Bauer: Der Privatdozent nahm teil und brachte bei dem Diner einen ultraradikalen Toast auf Hegels Staatsphilosophie aus, die die süddeutschen Ansichten durch „Kühnheit, Liberalität und Entschiedenheit weit überrage“.
- Überraschende Teilnehmer: Zu den Demonstranten zählten auch Eduard Flottwell, Sohn eines preußischen Oberpräsidenten, und der junge Schweizer Student Jacob Burckhardt.
Staatliche Repression und die Folgen:
Die Behörden reagierten, wenn auch mit vormärzlicher Langsamkeit. Eine Kabinettsordre von König Friedrich Wilhelm IV. vom 14. Oktober 1841 befahl strenge Maßnahmen:
- Verweise und Karrierestopp: Im Staatsdienst befindliche Teilnehmer sollten einen starken Verweis erhalten und „unbefördert bleiben“.
- Ausweisungen: Nicht in Preußen ansässige Teilnehmer, die nur eine temporäre Aufenthaltsgenehmigung hatten, sollten ausgewiesen werden. Dies betraf u. a. den Redakteur Dr. Karl Riedel und den Buchhändler Cornelius.
- Berufsverbote: Bruno Bauer wurde das Lehramt in Bonn entzogen. Der Journalist Dr. Rudolf Wentzel, Mitarbeiter der Allgemeinen Preußischen Staatszeitung, wurde entlassen.
- Pensionierung Welckers: Kurz nach den Ereignissen wurde Welcker auf Befehl des Großherzogs von Baden in den Ruhestand versetzt, was Zeitgenossen wie Varnhagen von Ense als von Preußen angestiftet ansahen.
- Disziplinarmaßnahmen: Der Gymnasiallehrer Karl Friedrich Koeppen, ein Freund von Karl Marx, erhielt eine Verwarnung und wurde drei Monate überwacht.
Das Zentraldokument: Die „Allerunterthänigste Vorstellung“
Die sechs als Hauptverantwortlich angesehenen Berliner (Eichler, Koeppen, Meyen, Mügge, Rutenberg, Zabel) unterzeichneten am 12. November 1841 eine Bittschrift an den König, um die Strafen abzuwenden. Darin erklärten sie:
- Sie beabsichtigten keine „strafbare politische Demonstration“ oder „unehrerbietiges Auflehnen“, sondern nur eine persönliche Ehrenbezeigung für einen „durch ganz Deutschland rühmlich anerkannten Mann“.
- Sie versicherten ihre „loyalen Gesinnungen“ und ihre Liebe zum Vaterland und zum König.
- Sie definierten ihre politische Haltung als „würdige und männliche Überzeugung“, die mit Freimütigkeit geäußert werde und „gleichweit entfernt von gedankenloser Demuth, wie von frecher Ungebühr“ sei.
- Sie baten um Gnade für den entlassenen Rudolf Wentzel, einen unglücklichen Familienvater, der nur an einem Mahl teilgenommen habe.
Dieses Dokument zeigt die prekäre Lage der Oppositionellen, die zwischen dem Ausdruck ihrer Überzeugung und der Notwendigkeit, sich der monarchischen Autorität zu unterwerfen, balancieren mussten. Die Episode hatte eine radikalisierende Wirkung auf die Beteiligten und den intellektuellen Kreis um Marx und Engels.
Ästhetische versus Soziologische Literaturbetrachtung
Johannes Klein erörtert den methodischen Konflikt zwischen einer kunstgebundenen (ästhetischen) und einer gesellschaftsgebundenen (soziologischen) Betrachtungsweise von Literatur, der in den kommunistischen Ländern, aber auch in Nordamerika und Westeuropa an Bedeutung gewonnen hat.
Positionen und Vorwürfe:
- Soziologische Betrachtung:
- Argumentiert, dass Kunst eine gesellschaftliche Funktion hat und aus den sozialen Bedingungen ihrer Zeit zu erklären ist.
- Gewinnt an Attraktivität durch den „Reiz der Neuheit“ und ihre scheinbare Nähe zu Realismus und ökonomischen Prioritäten.
- Wird oft von politisch linksstehenden Denkern bevorzugt, die in der rein ästhetischen Betrachtung „reaktionäre Neigungen“ vermuten (Vorwurf des „Formalismus“ in Mitteldeutschland).
- Ästhetische Betrachtung:
- Geht von der künstlerischen Gestaltung und dem „Eigenorganismus“ des Kunstwerks aus.
- Wird von Vertretern der etablierten Kunstwissenschaft in Westdeutschland bevorzugt, die der soziologischen Methode „Unkünstlerischkeit“ oder „Banausentum“ vorwerfen.
- Befindet sich trotz ihrer scheinbaren Vormachtstellung bereits in der Defensive.
Plädoyer für eine komplementäre Sichtweise:
Klein argumentiert gegen die Ausschließlichkeitsansprüche beider Methoden und plädiert für eine Ergänzung, da beide aus der Wechselbeziehung nur Nutzen ziehen können. Die Anwendbarkeit der jeweiligen Methode hängt stark vom Gegenstand ab.
- Beispiele für die Anwendbarkeit:
- Hölderlin vs. Thomas Mann: Eine soziologische Einordnung Hölderlins als „bürgerlich-revolutionär“ berührt nicht die Geheimnisse seiner geschichtsphilosophischen und religiösen Schau. Bei Thomas Mann hingegen, der als Gesellschaftskritiker auftritt, ist die soziologische Betrachtung ergiebiger, kann aber seine feinen künstlerischen Mittel (Form, Sprache) nicht allein erklären.
- Barockdichtung: Hier lassen sich viele formale Elemente (blumige Rede, prunkvoller Vergleich, ziselierte Strophenformen) soziologisch aus dem Repräsentationsbedürfnis der herrschenden Aristokratie ableiten. Die Antithetik der Barockdichtung hingegen ist oft religiös begründet (Spannung zwischen irdischer Pracht und jenseitiger Bestimmung) und entzieht sich einer rein gesellschaftlichen Erklärung.
- Schiller und Hebbel: Hebbels Drama Maria Magdalena ist eine Tragödie, die fast ausschließlich aus den „Befangenheiten und Eigentümlichkeiten des Kleinbürgertums“ abgeleitet ist – ein Paradigma für soziologische Analyse. Schillers Tell hingegen, obwohl er ein Volk auf der Bühne darstellt, zeigt den Menschen nicht in seiner Gebundenheit, sondern in seiner Freiheit. Hier ist eine künstlerisch-feinfühlige Auslegung überlegen.
- Bertolt Brecht: Selbst bei Brecht, einem Dichter mit klarer sozialpolitischer Absicht, bricht in Figuren wie Shen Te, der stummen Kattrin oder der Grusche eine „reine Menschlichkeit“ durch, die sich nicht in ein soziologisches Schema fügen lässt. Das künstlerische Werk greift tiefer, wenn es „den ewigen Mächten der Seele: Liebe und Sehnsucht, Raum verschafft“.
Fazit:
- Keine absolute Kunst: Klein lehnt die Idee einer „l’art pour l’art“ ab. Alle Kunst ist gesellschaftsbezogen, da der Mensch ein geselliges Wesen ist.
- Grenzen der Soziologie: Die soziologische Betrachtung ist stark, wo sie gegenstandsgebunden und konkret ist, verliert aber gegenüber Verfeinerung und Vergeistigung den Zugriff. Die „Symbolsprache der künstlerischen Form“ ist soziologisch niemals vollständig zu erfassen.
- Ergänzung statt Ausschließlichkeit: Ästhetische und soziologische Literaturbetrachtung sollten einander ergänzen. Eine einseitige Betonung beruht letztlich auf den „Voraussetzungen eines Glaubens“.
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4. Entwicklung und Organisation der deutschen Arbeiterbewegung
Die sozialdemokratische Bewegung in Halle/Saale (1865–1890)
Karl-A. Hellfaier zeichnet die Entwicklung der sozialdemokratischen Bewegung in Halle von ihren Anfängen bis zum Ende des Sozialistengesetzes nach. Die Darstellung basiert auf spärlichen Quellen, da parteiinterne Aufzeichnungen aus dieser Zeit fehlen und vieles aus Angst vor Repression vernichtet wurde.
Anfänge und frühe Entwicklung (1865–1878):
- Gründung: 1865 wurde eine „Filiale“ des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (Lassalleaner) in Halle gegründet. Die Mitglieder waren überwiegend Handwerker (Schuhmacher, Schneider, Maurer, Schlosser), aber auch einige Fabrik- und Brauereiarbeiter.
- Spaltung und Konkurrenz: Spätestens 1873 existierte auch eine „Eisenacher“ Gruppe, die jedoch „bedeutend schwächer“ war als die der Lassalleaner. Es kam zu öffentlichen Debatten und Konkurrenzkämpfen zwischen den beiden Richtungen.
- Vereinigung: 1875 wurde die hallesche Organisation auf dem Gothaer Einigungskongress durch den Lassalleaner Rödiger vertreten, der 75 Mitglieder repräsentierte.
Die Zeit des Sozialistengesetzes (1878–1890):
- Mitgliederstärke und Organisation: Die Bewegung war zunächst klein. Zu Beginn des Gesetzes gab es etwa zwei Dutzend Mitglieder; die Zahl der „wirklichen Genossen“ soll zeitweise nur elf betragen haben. Dennoch stieg die Zahl der Abonnenten des illegalen Zentralorgans Der Sozialdemokrat von 35 (1883) auf 120 (1887).
- Tarnorganisationen: Nach dem Verbot der politischen und gewerkschaftlichen Vereine traf man sich in unpolitischen Organisationen wie Kegel-, Rauch- und Gesangsvereinen („Lassallia“, später „Stradella“). Ab 1880 existierte eine geheime Parteikörperschaft namens „Corpora“. Die Organisation war in Bezirke mit Bezirksführern (Vertrauensleuten) unterteilt, die ein lokales Komitee bildeten.
- Führende Persönlichkeiten: Gustav Schmidt (Tischler) war das langjährige Haupt der Organisation. Wilhelm Biehl (Schuhmachermeister) war einer der Gründer und eine zentrale Figur. Von 1882 bis 1887 lebte Wilhelm Hasenclever, der letzte Präsident des ADAV, in Halle und spielte eine wichtige Rolle.
- Regionale Vernetzung (Beuchlitzer Weinberg Konferenz 1882): Am 26. Dezember 1882 fand eine geheime Provinzial- und Landeskonferenz bei Halle statt, an der 18 Delegierte aus Sachsen, Anhalt und Thüringen teilnahmen. Unter dem Vorsitz Hasenclevers wurde eine regionale Organisation in drei Bezirken (Magdeburg, Halle, Erfurt) beschlossen und die Einrichtung eines „Oberkomitees“ in Halle. Die Polizei wurde durch eine Scheinversammlung in Trotha erfolgreich getäuscht.
- Repression und Gegenwehr: Halle wurde nicht unter den „kleinen Belagerungszustand“ gestellt, und es gab keine Ausweisungen. Ein großer „Geheimbundprozess“ gegen sechs führende Sozialdemokraten im Februar 1888 endete mit einem Freispruch aller Angeklagten wegen Mangels an Beweisen, obwohl die Anklage auf den Aussagen eines Polizeiagenten (des ehemaligen Genossen Blosfeld) basierte.
Wachstum durch Wahlen und Fachvereine:
- Reichstagswahlen als Indikator: Trotz der geringen Mitgliederzahl zeigte sich die wachsende Stärke der Bewegung in den Wahlergebnissen.
Jahr | Kandidat | Stimmen |
1869 | Ottomar Schnaufer (Lassalleaner) | 1.908 |
1871 | Wilhelm Fengler (Lassalleaner) | 93 |
1874 | Kameran (Zigarrenarbeiter) | 1.250 |
1877 | Hugo Rödiger (Bildhauer) | 2.323 |
1878 | Hugo Rödiger | 1.046 |
1881 | Wilhelm Hasenclever | 1.137 |
1884 | Wilhelm Hasenclever | 3.535 |
1887 | Max Kayser | 6.590 |
1890 | Fritz Kunert | 12.808 |
- Fachvereinsbewegung: In den 1880er Jahren wurden zahlreiche Fachvereine (Schuhmacher, Tischler, Maurer, Metallarbeiter etc.) gegründet. Obwohl sie nach außen unpolitisch sein mussten, dienten sie als „Rekrutenschulen der Sozialdemokratie“ und trugen maßgeblich zur Mobilisierung der Wähler bei.
- Gründung des Wahlvereins (1889): Am 19. April 1889 wurde der „Verein zur Erzielung volkstümlicher Wahlen“ mit 65 Mitgliedern gegründet, der nach dem Fall des Sozialistengesetzes zum „Sozialdemokratischen Verein für Halle und den Saalkreis“ wurde.
Fazit:
Die Sozialdemokratie in Halle war während des Sozialistengesetzes primär eine Wählerpartei mit einem kleinen Kern aktiver Mitglieder. Ihre Stärke lag in der Fähigkeit, sich über Tarnorganisationen und Fachvereine zu organisieren und die Reichstagswahlen erfolgreich zur Mobilisierung zu nutzen. Die Ideologie war stark von der lassalleanischen Tradition geprägt.
Der Streit um die Dampfersubvention (1885)
Rudolf Rothe dokumentiert anhand von Briefen und Protestresolutionen aus der Parteibasis die tiefgreifende politische Krise innerhalb der Sozialdemokratie im Jahr 1885. Auslöser war die Haltung der Mehrheit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zur Frage der Subventionierung von Dampfschifflinien.
Die Kernpunkte des Konflikts:
- Verhalten der Fraktionsmehrheit: Die Fraktionsmehrheit zeigte sich bereit, den Regierungsvorlagen zur Subventionierung zuzustimmen oder zumindest eine kompromissbereite Haltung einzunehmen. Dies wurde von weiten Teilen der Partei als Abkehr von den revolutionären Prinzipien und als Anbiederung an die „bismarckische Social Reform“ empfunden.
- Reaktion der Parteibasis: Es formierte sich ein breiter Widerstand, der sich in zahlreichen Protesten und Resolutionen aus lokalen Parteiorganisationen (München, Königsberg, Barmen, Mannheim, Offenbach, London, Leipzig) äußerte.
- Die „Erklärung“ der Fraktion: In der Nr. 14 des Sozialdemokrat veröffentlichte die Fraktion eine Erklärung, die als Versuch gewertet wurde, jede Kritik an ihrem Handeln zu unterdrücken und das Parteiorgan zu einem reinen Fraktionsorgan zu machen. Dies wurde als „diktatorisches“, „undemokratisches“ und „unverfrorenes“ Vorgehen scharf verurteilt.
Argumente der Opposition in der Partei:
- Prinzipientreue vs. Realpolitik: Die Protestierenden warfen der Fraktionsmehrheit „Verleugnung der ruhmreichen Vergangenheit“, „Rechnungsträgerei aus Zweckmäßigkeitsgründen“ und „Verrat“ an der Sache der Arbeiter vor. Der Leipziger Bernhard Teubner sieht darin eine Fortsetzung des Verrats am Lassalle'schen Programm.
- Freiheit der Meinungsäußerung: Ein zentraler Punkt der Kritik war der Versuch der Fraktion, die parteiinterne Diskussion zu unterbinden und dem Zentralorgan einen „Maulkorb“ anzulegen. Die Barmer Genossen erklärten: „Ist es uns schon durch das famose Ausnahme-Gesetz auf alle Weise erschwert, durch Wort und Schrift unsere Gedanken zu äußern, so wollen wir uns wahrlich nicht noch durch unsere politischen Beauftragten ganz mundtodt machen lassen.“
- Rolle der Abgeordneten: Die Briefe betonen, dass die Abgeordneten Beauftragte der Partei seien und nicht umgekehrt („Die Abgeordneten sind der Arbeiter wegen, nicht die Arbeiter der Abgeordneten wegen da“).
- Forderung nach einem Parteikongress: Viele Resolutionen, insbesondere die aus München und Barmen, forderten die baldige Einberufung eines allgemeinen Parteikongresses, um die Differenzen zu klären und die Fraktion zur Rechenschaft zu ziehen.
Der Konflikt verdeutlicht die grundlegende Spannung zwischen dem revolutionären Anspruch der Partei und den pragmatischen Zwängen der parlamentarischen Arbeit, die unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes besonders akut wurde.
Carl d’Ester: Porträt eines radikalen Demokraten (1846–1849)
Kurt Koszyks Beitrag beleuchtet die politische Laufbahn des Kölner Arztes Dr. Carl d’Ester, einer Schlüsselfigur der radikal-demokratischen Bewegung im Rheinland während des Vormärz und der Revolution von 1848/49.
Frühes politisches Engagement in Köln:
- Soziale Frage: Als städtischer Armenarzt kam d’Ester früh mit den sozialen Problemen der arbeitenden Klassen in Berührung.
- Vereinsgründungen: 1844 war er Protokollführer bei der Gründung des „Allgemeinen Hülfs- und Bildungs-Vereins“, der ursprünglich „Verein zum Wohle der arbeitenden Volksklassen“ heißen sollte. Die Regierung bezichtigte ihn „kommunistischer Tendenzen“ und verweigerte die Genehmigung der Statuten.
- Verbindung zu Marx: D’Ester hatte Verbindungen zur Rheinischen Zeitung und war ein Vertrauensmann von Karl Marx, für den er einen Verleger suchte und der für seine Aufnahme in die Association démocratique in Brüssel sorgte. Er gehörte auch zum Vorbereitungskomitee der Neuen Rheinischen Zeitung.
- Wahl zum Gemeinderat: 1846 wurde er in den Kölner Gemeinderat gewählt, wo er zum Führer der Linken aufstieg. Seine Kandidatur war durch seine Beteiligung an einer Bürgerkommission, die polizeiliche Exzesse untersuchte und daraufhin selbst gerichtlich verfolgt wurde, populär geworden.
D’Ester in der Revolution von 1848/49:
- Forderungen des Volkes: Am 3. März 1848 war d’Ester einer der Unterzeichner einer Petition mit sieben „Forderungen des Volkes“, die vor dem Kölner Rathaus überreicht wurde. Sie verlangte u. a. Gesetzgebung durch das Volk, allgemeines Wahlrecht, Pressefreiheit, Volksbewaffnung und „Schutz der Arbeit“.
- Wahl in die Preußische Nationalversammlung: Im Mai 1848 wurde er für den Kreis Mayen in die Preußische Nationalversammlung in Berlin gewählt. Dort profilierte er sich durch seine außergewöhnliche Beredsamkeit und Vehemenz als einer der führenden Köpfe der äußersten Linken. Ein anonymer politischer Gegner beschrieb ihn als „Revolutions-Dilettant in zierlichem Format, aber von cholerischem und aufbrausendem Gemüth“, der „gern den parlamentarischen Donnerer A la Mirabeau gespielt hätte“.
Parlamentarische Positionen:
- Volkssouveränität: D’Ester vertrat konsequent den Grundsatz der Volkssouveränität. In der Debatte über eine Antwortadresse an den König argumentierte er: „Wir haben nicht für unsere Berufung unseren Dank auszusprechen; die Versammlung hat einen selbständigen Grund ihrer Existenz.“
- Gegen die Todesstrafe: In einer Rede am 4. August 1848 plädierte er eindringlich für die Abschaffung der Todesstrafe. Er argumentierte, dass Verbrechen oft die Schuld der Gesellschaft seien, „welche Einrichtungen duldet, die den Menschen zum Verbrecher machen“.
- Rechte der Soldaten: Er verteidigte das Petitions- und Assoziationsrecht für Soldaten und argumentierte, dass man ihnen nicht die Rechte nehmen dürfe, die jedem Staatsbürger zustehen.
- Gegen den preußischen Staatsstreich: Nach der gewaltsamen Auflösung der Nationalversammlung und der Oktroyierung einer Verfassung im Dezember 1848 organisierte d’Ester den Widerstand mit und gab die Zeitschrift Der demokratische Urwähler heraus, die zur Wahl von Demokraten aufrief.
Nach der Auflösung auch der Zweiten Kammer im April 1849 musste d’Ester aus Preußen fliehen, nahm an der badischen Revolution teil und entkam nach deren Scheitern in die Schweiz.
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5. Die wirtschaftspolitische Strategie der Sowjetunion im Kalten Krieg
Kurt Müllers Analyse untersucht die Ziele und Methoden des sowjetischen Siebenjahresplans (1959–1965), der als Grundlage für eine neue Phase des „friedlichen Wettbewerbs“ mit dem Westen konzipiert ist. Die Doktrin lautet: Politische Weltgeltung wird durch wirtschaftliche Stärke bestimmt.
Der Siebenjahresplan (1959–1965) und seine Ziele
- Hauptziel: Eine qualitative Umstellung der sowjetischen Produktionsbasis entsprechend den Anforderungen neuester Technik und Automation. Dies umfasst die Elektrifizierung des Landes, die Umstellung der Energiestruktur von Kohle auf Erdöl und Gas, den Aufbau einer modernen Chemieindustrie und die massive Industrialisierung der östlichen Gebiete (Ural, Sibirien, Kasachstan).
- Investitionsvolumen: Geplant sind Investitionen in Höhe von 2 Billionen Rubel aus staatlichen Mitteln, was dem gesamten Investitionsvolumen der Industrialisierung von 1928 bis 1958 entspricht. 40 % davon sind für die östlichen Gebiete vorgesehen.
- Strategisches Fernziel: Bis 1970 sollen die USA in der Pro-Kopf-Produktion übertroffen und der „höchste Lebensstandard der Welt“ gesichert werden. Dies soll die Frage „Wer wen?“ im Weltmaßstab zugunsten des Sozialismus entscheiden.
Tabelle: Verteilung der Investitionsmittel (in Mrd. Rubel)
Industriezweig | 1952-1958 | 1959-1965 (Plan) | Steigerung in % |
Eisenhüttenwesen | 40,8 | 100 | 245 % |
Chemie-Industrie | 19,9 | 100-105 | 502-528 % |
Erdöl- und Gasindustrie | 72,2 | 170-173 | 235-240 % |
Kohlenindustrie | 61,2 | 75-78 | 122-127 % |
Kraftwerke, Stromleitungen | 75,1 | 125-129 | 166-172 % |
Leicht- u. Nahrungsmittelindustrie | 40,0 | 80-85 | 200-212 % |
Planerfüllung und wirtschaftliche Realitäten (Stand 1959/60)
- Industrieproduktion: 1959 wuchs die Industrieproduktion um 11 % (geplant 7,7 %). Das Wachstumstempo ist jedoch im Vergleich zu früheren Planperioden (z. B. 19,2 % im ersten Fünfjahresplan) tendenziell rückläufig, was dem Erreichen eines höheren Industrieniveaus entspricht.
- Grundstoffproduktion: Die Produktion von Stahl (59,9 Mio. t in 1959) und Kohle (506,5 Mio. t) nähert sich den US-Zahlen von 1958 an. In den strategisch wichtigen Sektoren Erdöl, Gas und Elektroenergie ist der Abstand zu den USA jedoch noch erheblich, und der absolute Zuwachs reicht bisher nicht aus, um die Planziele bis 1965 zu erreichen.
- Landwirtschaft: Während in der Milch- und Fettproduktion Erfolge gemeldet werden, blieben die Ernten bei Getreide und Zuckerrüben 1959 hinter dem Rekordjahr 1958 zurück. Als neuer Trend zeigt sich die Bildung von „Interkolchosen-Organisationen“, die eigenständig Produktionsstätten (Ziegeleien, Kraftwerke, Sägewerke) errichten und damit eine Art marktwirtschaftlichen Sektor neben der staatlichen Planwirtschaft schaffen.
- Sozialpolitik: Die angekündigte Verkürzung der Arbeitszeit (auf eine 35/30-Stunden-Woche ab 1964) und die schrittweise Abschaffung der Lohnsteuer dienen nicht nur der Hebung des Lebensstandards, sondern sind auch notwendige Maßnahmen, um die durch die Automation freiwerdenden Arbeitskräfte aufzufangen und soziale Spannungen zu vermeiden.
- Wohlstandsoffensive: Angesichts steigender Ansprüche der Bevölkerung wurden im Juni 1960 zusätzlich 25–30 Mrd. Rubel für die Konsumgüterindustrie bewilligt, um das Versprechen einzulösen, Westeuropa im Pro-Kopf-Verbrauch zu überflügeln.
Die Integration des Ostblocks
Der Siebenjahresplan ist untrennbar mit der wirtschaftlichen Integration des Ostblocks verbunden, um das gesamte Potenzial des „sozialistischen Weltwirtschaftssystems“ zu mobilisieren.
- Gleichzeitiger Übergang zum Kommunismus: Chruschtschows These, dass alle sozialistischen Länder „mehr oder minder gleichzeitig“ den Kommunismus erreichen werden, dient als ideologische Grundlage für die Angleichung der Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen (z. B. Kollektivierung in der SBZ).
- Arbeitsteilung und Spezialisierung: Über den „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) wird die Produktion koordiniert. Länder wie die DDR und die Tschechoslowakei spezialisieren sich auf bestimmte Maschinen und Ausrüstungen, die sie an die UdSSR liefern, während sie im Gegenzug bei wichtigen Rohstoffen (Eisenerz, Erdöl, Kupfer, Baumwolle) fast vollständig von der UdSSR abhängig sind.
- Infrastrukturelle Verflechtung: Gemeinsame Projekte wie eine Pipeline für Erdöl aus dem Wolgagebiet und die Vereinigung der Energiesysteme schaffen eine unumkehrbare infrastrukturelle Abhängigkeit von der Sowjetunion.
- Industrielle Gleichschaltung: Durch den Bau von über 600 Industriewerken durch die UdSSR im Ostblock, die Lieferung kompletter Werkanlagen und die Weitergabe tausender technischer Dokumentationen wird die Industrie der Satellitenstaaten nach sowjetischen Normen und Technologien ausgerichtet.
Außenhandel als Instrument der Koexistenz
Der Außenhandel wird als zentrale Waffe im „ökonomischen Wettbewerb“ verstanden, der als „Form des Klassenkampfes mit friedlichen Mitteln“ definiert wird.
- Wachstum: Der sowjetische Außenhandelsumsatz soll sich von 42 Mrd. Rubel (1959) auf 70 Mrd. Rubel (1965) erhöhen.
- Strategische Schwerpunkte:
- Ostblock: Der Handel innerhalb des Blocks bleibt mit ca. 75 % des Gesamtumsatzes dominant und dient der Vertiefung der Integration.
- Entwicklungsländer: Der Handel mit den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas soll massiv ausgebaut werden (von 10,4 Mrd. Rubel auf 32–33 Mrd. Rubel). Dies wird durch ein gezieltes Programm der Wirtschaftshilfe unterstützt.
- Industrieländer: Der Handel mit dem Westen soll ebenfalls ausgeweitet werden, um technologische Güter zu importieren und Devisen zu erwirtschaften.
- Wirtschaftshilfe für Entwicklungsländer: Seit 1955 verfolgt die UdSSR eine aktive Politik der Kreditvergabe und des Baus von Industrieanlagen in strategisch wichtigen Ländern (Indien, VAR, Afghanistan, Irak, Indonesien, Kuba). Die Kredite (bisher ca. 10 Mrd. Rubel) sind zweckgebunden und dienen der Finanzierung sowjetischer Lieferungen. Diese Politik zielt darauf ab, diese Länder politisch zu gewinnen oder zu neutralisieren und sie als Teil der „Zone des Friedens“ im globalen Wettbewerb zu instrumentalisieren. Die eigentliche Offensive der sowjetischen Wirtschaftshilfe hat mit dem Siebenjahresplan erst begonnen.
Erstellt: 18.06.2025 - 11:57 | Geändert: 12.10.2025 - 22:01