Ey hör mal! Von Gulraiz Sharif. Rezension von Britta Kiersch
Ey hör mal! Von Gulraiz Sharif Arctis Verlag ISBN 978-3-03880-054-5
Eigentlich hatte der fünfzehnjährige Mahmoud erwartet, dass die Sommerferien ziemlich langweilig werden würden und er die meiste Zeit mit seinem einäugigen Freund Arif abhängen würde. Dann aber kommt Onkel Ji, der ältere Bruder seines Vaters, aus Pakistan zu Besuch und Mahmoud wird zum Fremdenführer. Er zeigt Onkel Ji Oslo, seine Stadt. Hier ist er geboren und lebt am Stadtrand im elften Stock eines multikulturell bewohnten Hochhauses mit defektem Fahrstuhl. Mahmouds Vater fährt Taxi, viel zu viel, weshalb er nur selten Zeit für Mahmoud und den zehn Jahre alten Ali hat, aber die Familie in Pakistan braucht viel Unterstützung. Außerdem sollen es seine Söhne später einmal besser haben.
Onkel Ji ist begeistert von Norwegen, von all dem, was Mahmoud ihm darüber erzählt, den Möglichkeiten und dem Lifestyle. Am liebsten würde er bleiben, aber Mahmoud erklärt ihm, warum daraus nichts werden kann, warum man nicht mehr so ohne Weiteres einen norwegischen Pass bekommt.
Als Mahmoud merkt, dass mit seinem kleinen Bruder etwas nicht stimmt, der sich komisch und oft gar nicht jungenhaft benimmt, stellt er ihn zur Rede.
Ali will erst nicht recht heraus mit der Sprache. Aber dann erklärt er Mahmoud, dass er sich als Mädchen fühlt und der Jungenkörper ihm ganz falsch vorkommt. Wie sollen sie das nur den Eltern und vor allem dem Vater sagen? Der ist doch so stolz auf seine Söhne und sehr auf den guten Ruf bedacht. Bestimmt wird er der Mutter die Schuld geben, sie ist ja schließlich für die Erziehung verantwortlich. Ganz anders als bei den norwegischen Norwegern ist dieses Transgender-Thema bei den Pakis nämlich nicht selbstverständlich, wie vieles andere auch. Mahmoud beschließt, dass es erst einmal ihr Geheimnis bleiben soll, bis der Onkel abgereist ist und wieder mehr Alltagstrott in der Familie einzieht. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse…
Feridun Zaimoglu hat 1995 ein Buch mit dem Titel „Kanak Sprak“ geschrieben, durch das er zu einer Art Sprachrohr der jungen türkischstämmigen Deutschen wurde und dieser Begriff ist ja bei uns längst etabliert. Gulraiz Sharif hat sein Buch in einer ähnlichen Sprache geschrieben oder zumindest erinnert die deutsche Übersetzung ganz stark daran. Es ist ein lockerer, frischer und fröhlicher Slang-artiger Stil, der perfekt zu dem Jungen, zu Mahmoud passt, der uns diese Geschichte erzählt, dessen Ziel die Universität ist, wo seine Mutter als Putzfrau arbeitet; der aus der Warte des pakistanischen Norwegers über sein Land und das gesellschaftliche sowie familiäre Miteinander nachdenkt. Daran, wie er selbst, im Gegensatz zu seinem Vater, mit der Situation seines Bruders umgeht, wird deutlich, was das Aufwachsen in einem anderen Kulturkreis bewirken kann. Wie Mahmoud dann gegenüber der Familie für seinen Bruder bzw. seine Schwester eintritt, ist bemerkenswert. Er empfindet Verantwortung für den Jüngeren und nimmt sie wahr, einen besseren Bruder kann man sich nicht wünschen. „Ey hör mal!“ ist nicht das erste Buch zum Thema Transidentität, aber es ist das eigenwilligste, das ich bisher gelesen habe und mir hat sehr gut gefallen, dass es nicht nur um dieses eine Thema kreist. Es ist auch ein sehr europäisches Buch, denn Mahmoud und seine Familie könnte ebenso in Hamburg oder London leben und die Problematik bzw. die Umstände seines Migrationshintergrundes wären wahrscheinlich dieselben. Sharifs Sprache erzeugt viele Bilder, man sieht diese Menschen vor sich. Man lacht mit ihnen und sorgt sich um sie. Und am Ende wird alles gut, bis auf die Tatsache, dass Onkel Ji abreisen muss. Jetzt, wo ihn alle ins Herz geschlossen haben.
Wenn jemand mehr zu diesem Thema lesen möchte, kann mit → Line Baugstøs Buch „Wenn wir doch nur Löwen wären“ weitermachen.
→ Ey hör mal! Von Gulraiz Sharif
Erstellt: 13.04.2022 - 21:17 | Geändert: 13.04.2022 - 21:22