Lässt sich der koloniale Genozid in Amazonien messen? Forscherstreit über Pollen in Seen und die CO 2 -Konzentration der Atmosphäre als Maß der vorkolonialen Bevölkerung im Regenwald. Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro Neues Deutschland 09.07.2021
Neokolonialismus (Thema)
Nationale Souveränität ist in weiten Teilen des herrschenden Diskurses in Verruf geraten. Aber nicht, weil die Interessensvertreter der besitzenden Klassen den Nationalstaat auflösen wollen. Im Gegenteil: Dieser soll dem globalen Machtanspruch führender Kapitalgruppen entsprechend auf eine höhere, supranationale Ebene gehoben werden. Auf diese Weise bleibt die Funktion des Nationalstaats, nämlich die Durchsetzung von Klasseninteressen und die Aufrechterhaltung von Ausbeutungsstrukturen, nicht bloß erhalten, sondern wird erweitert. In den USA ist die „nationale Souveränität“ längst zum Werkzeug großräumig agierender US-Konzerne mutiert, die sich mit Hilfe des militärisch-industriellen Komplexes über das Völkerrecht stellen.
"Ein Buch voller Fakten, Zorn und Herzblut." Anthony Loewenstein
Seit Dekaden hören wir, Entwicklung hilft: Die südlichen Länder der Welt schließen zum reichen Norden auf, die Armut hat sich in den vergangenen 30 Jahren halbiert, bis zum Jahr 2030 ist sie verschwunden. Das ist eine tröstliche Geschichte, die von Politik und Wirtschaft gerne bestätigt wird. Aber sie ist nicht wahr. In Wirklichkeit hat sich die Einkommenslücke zwischen Nord und Süd seit 1960 verdreifacht, 60 Prozent der Weltbevölkerung verdienen weniger als 4,20 Euro am Tag. Armut ist kein Naturphänomen, sie wird gemacht.
1964 chauffiert Jean Ziegler den damals schon legendären Che Guevara bei einer Konferenzin Genf. Begeistert will er mit dem Revolutionär nach Kuba aufbrechen. Doch Guevara lehnt ab. Jean Ziegler solle hier in der Schweiz, wo er geboren ist, gegen den Kopf des kapitalistischen Monsters kämpfen. Seither kennt Jean Ziegler keine Ruhe: Unermüdlich prangert er als Schriftsteller, Professor, Abgeordneter im Schweizer Parlament und Mitarbeiterder UNO die Macht der Manager des Finanzkapitals und deren Verantwortung für den Hunger in der Welt an. Sein Engagement ist bis heute mit über 80 ungebrochen. Doch als er schließlich selbst nach Kuba reist, trifft er die karibische Insel im Wandel an und sieht plötzlich seine Ideen in Frage gestellt.
"Bei den Entscheidungen dieser Welt hört niemand auf die armen Menschen" (Kohestani 2003). Afghanische basisdemokratische und feministische Akteure äußern deutlich ihren Widerspruch zum externen Peacebuilding - doch sie werden nicht gehört. Ihre Analysen und Ideen werden von Politik und Wissenschaft weitgehend ausgeschlossen. Darin schlägt sich, so kann Mechthild Exo zeigen, die koloniale, epistemische Gewalt in der Weltpolitik nieder.
Die Versprechen des Jahres 1989 auf eine Welt im Zeichen von Wohlstand und Frieden sind nicht in Erfüllung gegangen. Die Finanzkrise vergrößert auch in entwickelten Ländern das Massenelend und verschärft die soziale Ungleichheit derart, dass es dem großen Geld ermöglicht wird, die politischen Institutionen zu kapern. Auf internationaler Ebene folgt ein "kleiner Krieg" auf den anderen, der allerdings im jeweils betroffenen Land zehntausende Tote mit sich bringt. Darüber hinaus zeichnet sich am Horizont die Gefahr größerer Konflikte ab, die sogar die Schwelle zum Atomkrieg überschreiten könnten.
In mancher Hinsicht ist Afrika der wohl reichste Kontinent der Welt: Ein Drittel der weltweiten Rohstoffvorkommen liegt hier unter der Erdoberfläche. Für die Mehrheit der Bevölkerung bedeutet dieser Reichtum allerdings weit mehr Fluch als Segen. Ein kriminelles Netzwerk aus zwielichtigen Händlern, internationalen Großkonzernen und kapitalistischen Freibeutern hat sich den Zugang zu den Ressourcen gesichert und greift die Gewinne systematisch ab. Die direkten Folgen sind ausufernde Korruption, Gewalt und Unterdrückung.
Die Studie untersucht Diskurse zum Kolonialismus und seiner Kritik in Literatur und Geschichte der beiden Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und löst damit ein doppeltes Desiderat ein:
"Die Menschheit", so Kant in seiner Vorlesung über Physische Geographie, "ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften."
Die über 3000-jährige Geschichte des Kolonialismus durchlief sehr verschiedenartige, jeweils entsprechend der Produktivkraftentwicklung ineinander übergehende Phasen: Von den Sklavenhaltergesellschaften der Antike über die seefahrenden europäischen Entdecker und Plünderer aus Feudalismus und Kapitalismus
Wie koloniales Denken noch immer unsere Köpfe beherrscht. Wer die abendländische Gesellschaft für frei, aufgeklärt und gerecht hält, wird über die Wunden, auf die Friederike Habermann den Finger legt, erstaunt sein: