Juristisches Gutachten: EU-Sanktionen gegen deutsche Journalisten verstoßen gegen Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipien
Anhörung 11.11.2025 zur rechtlichen Bewertung der Sanktionierung von Journalisten durch den Europäischen am Rat

Im EU-Parlament gab es am 11. November eine Anhörung zur rechtlichen Bewertung der Sanktionierung von Journalisten durch den Europäischen Rat. Laut der einhelligen Meinung der dort vortragenden Rechtswissenschaftler verstößt das aktuelle EU-Sanktionsregime gegen Einzelpersonen wegen angeblicher „Desinformation“ in zahlreichen Punkten gegen EU- und Völkerrecht. Die Maßnahmen seien rechtlich fehlerhaft, unverhältnismäßig und nicht mit den Grundrechten vereinbar.

Auf 55 Seiten erstreckt sich das umfassende Rechtsgutachten der Völkerrechtlerin Prof. Dr. Alina Miron von der Universität Angers und Prof. Dr. Ninon Colneric, Richterin a.D. am Europäischen Gerichtshof (EuGH

ISBN 31.10.2025 Kostenlos Download (PDF) von bsw-ep.eu

In ihrem Gutachten (Legal Opinion) kommen die beiden renommierten Rechtswissenschaftlerinnen zu einem eindeutigen Ergebnis: Das derzeitige EU-Sanktionsregime gegen Einzelpersonen wegen angeblicher „Desinformation“ verstößt laut ihrer Einschätzung in mehreren Punkten gegen EU- und Völkerrecht. Die Maßnahmen seien „rechtlich fehlerhaft, unverhältnismäßig und nicht mit den Grundrechten vereinbar“. Darüber hinaus bestehen Zweifel an der Zuständigkeit der EU-Organe und an der Möglichkeit des rechtlichen Rechtsschutzes. Nachdenkseiten 27.11.2025

Präsentation

Rechtliche Analyse der EU-Sanktionen gegen natürliche Personen wegen Desinformation

Zusammenfassung

Dieses Briefing-Dokument fasst die zentralen Ergebnisse eines Rechtsgutachtens zusammen, das die Konformität der EU-Sanktionen gegen natürliche Personen wegen angeblicher Desinformation mit dem EU-Recht und dem Völkerrecht untersucht. Das Gutachten, erstellt von Prof. Dr. Ninon Colneric und Prof. Dr. Alina Miron, kommt zu dem Schluss, dass das bestehende Sanktionsregime, das im Kontext der destabilisierenden Aktivitäten Russlands erlassen wurde, in mehrfacher Hinsicht erhebliche rechtliche Mängel aufweist und gegen fundamentale Grundrechte verstößt.

Kritische Kernaussagen des Gutachtens:

  1. Verletzung fundamentaler Verfahrensrechte: Personen werden auf die Sanktionsliste gesetzt, ohne zuvor angehört zu werden. Dies stellt einen Verstoß gegen das Recht auf eine gute Verwaltung (Art. 41 der EU-Grundrechtecharta) dar. Dieser schwerwiegende Verfahrensmangel macht auch die Eingriffe in andere Grundrechte (wie Eigentum und Privatleben) rechtswidrig.
  2. Verstoß gegen die Meinungs- und Informationsfreiheit: Die Kriterien für eine Listung, insbesondere der Begriff „Informationsmanipulation und Einmischung“, sind übermäßig vage und unbestimmt. Dies verletzt das Rechtsstaatlichkeitsprinzip der Vorhersehbarkeit des Gesetzes. Zudem sind die Maßnahmen unverhältnismäßig, da sie nicht auf Fälle beschränkt sind, in denen Desinformation offensichtlich ist und offensichtlich zur Destabilisierung beiträgt.
  3. Aushöhlung existenzieller Rechte: Für in der EU lebende Personen führt das Verbot, Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen bereitzustellen, faktisch zu einem Berufsverbot. Dies verletzt das Wesen der Berufsfreiheit (Art. 15 der Charta) und der unternehmerischen Freiheit (Art. 16 der Charta).
  4. Weitere Grundrechtsverstöße:
    • Datenschutz: Die pauschale Veröffentlichung der Listungsgründe und der Privatadresse der Betroffenen ist unverhältnismäßig und verletzt Art. 8 der Charta.
    • Freizügigkeit: Die umfassenden Reisebeschränkungen für EU-Bürger sind unverhältnismäßig, da mildere Mittel zur Verfügung stünden (Art. 45 der Charta).
    • Gesundheitsschutz: Das Genehmigungsverfahren für medizinische Ausgaben ist unverhältnismäßig belastend und verstößt gegen Art. 35 der Charta.
  5. Verstoß gegen das Völkerrecht: Das Sanktionsregime ist mit den Anforderungen des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR), insbesondere dessen Artikel 19 zur Meinungsfreiheit, unvereinbar. Die mangelnde Präzision der Rechtsgrundlagen und die fehlende Verhältnismäßigkeitsprüfung sind hier die Hauptkritikpunkte.
  6. Klagebefugnis des Europäischen Parlaments: Das Europäische Parlament kann eine Nichtigkeitsklage gegen die Verordnung (EU) 2024/2642 erheben. Eine Klage gegen den zugrundeliegenden Ratsbeschluss (GASP) 2024/2643 hätte hingegen kaum Aussicht auf Erfolg, da die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs in diesem Bereich stark eingeschränkt ist.

1. Einleitung und Kontext

Das Rechtsgutachten wurde von den fraktionslosen Mitgliedern des Europäischen Parlaments, Michael von der Schulenburg und Ruth Firmenich, in Auftrag gegeben. Es untersucht zwei zentrale Fragen:

  1. Entsprechen die EU-Sanktionen gegen natürliche Personen wegen angeblicher Desinformation dem Völker- und EU-Recht?
  2. Kann das Europäische Parlament Nichtigkeitsklage gegen diese Rechtsakte erheben?

Die EU intensiviert seit der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 ihre Bemühungen zur Bekämpfung von Desinformation. Initiativen wie die East StratCom Task Force und Projekte wie EUvsDisinfo sind Teil einer umfassenderen Strategie gegen ausländische Informationsmanipulation und Einmischung (FIMI). Die im Gutachten analysierten Sanktionsmaßnahmen stellen eine Eskalation dieser Bemühungen dar. Die Rechtsakte verwenden den Begriff „Informationsmanipulation und Einmischung“, wobei in den Erwägungsgründen klargestellt wird, dass „Desinformation“ als eine Unterkategorie davon verstanden wird.

2. Das EU-Sanktionsregime im Detail

Rechtsgrundlagen und Zielgruppe

Die Sanktionen basieren auf zwei zentralen Rechtsakten, die mehrfach geändert und verlängert wurden:

  • Beschluss (GASP) 2024/2643 des Rates auf Grundlage von Artikel 29 des Vertrags über die Europäische Union (EUV).
  • Verordnung (EU) 2024/2642 des Rates auf Grundlage von Artikel 215 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).

Sanktioniert werden können natürliche Personen, die unter anderem für Handlungen oder Politiken verantwortlich sind, die der Regierung der Russischen Föderation zuzurechnen sind und die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Stabilität oder Sicherheit untergraben. Ein zentraler Listungsgrund ist die „Planung, Leitung, Beteiligung an, direkte oder indirekte Unterstützung oder sonstige Erleichterung der Anwendung von Informationsmanipulation und Einmischung“. Ursprünglich war das Kriterium auf „koordinierte“ Handlungen beschränkt; dieses Erfordernis wurde jedoch im Mai 2025 gestrichen, was den Anwendungsbereich erheblich erweitert hat.

Restriktive Maßnahmen

Die Sanktionen umfassen zwei Hauptkategorien:

  1. Reisebeschränkungen: Die Mitgliedstaaten müssen gelisteten Personen die Einreise oder Durchreise verweigern. Eine Ausnahme besteht für die Einreise eigener Staatsangehöriger.
  2. Finanzsanktionen:
    • Einfrieren von Vermögenswerten: Sämtliche Gelder und wirtschaftliche Ressourcen, die den gelisteten Personen gehören oder von ihnen gehalten oder kontrolliert werden, werden eingefroren.
    • Bereitstellungsverbot: Es ist verboten, den gelisteten Personen direkt oder indirekt Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

Es existieren Ausnahmeregelungen, die von nationalen Behörden genehmigt werden können. Diese betreffen unter anderem Gelder zur Deckung von Grundbedürfnissen (Lebensmittel, Miete, medizinische Behandlung), die Bezahlung von Anwaltskosten oder außerordentliche Ausgaben.

Listungsverfahren und gerichtliche Überprüfung

Die Aufnahme einer Person in die Sanktionsliste erfolgt durch einen einstimmigen Beschluss des Rates auf Vorschlag eines Mitgliedstaats oder des Hohen Vertreters. Die betroffene Person wird über die Listung und deren Gründe informiert, entweder direkt oder durch eine Bekanntmachung.

Betroffene Personen können eine Nichtigkeitsklage nach Artikel 263 AEUV beim Gericht der Europäischen Union einreichen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), insbesondere in den Fällen Kadi I und Kadi II, hat wesentliche Standards für die gerichtliche Überprüfung etabliert:

  • Der EuGH muss eine grundsätzlich umfassende Rechtmäßigkeitsprüfung aller Unionsakte im Lichte der Grundrechte gewährleisten.
  • Jede Sanktionsentscheidung muss auf einer ausreichend soliden Tatsachengrundlage beruhen.
  • Die Beweislast liegt bei der EU-Behörde (dem Rat), nicht bei der sanktionierten Person.
  • Eine vorherige Anhörung ist bei der erstmaligen Listung in Terrorismusfällen nicht erforderlich, um den Überraschungseffekt zu wahren (Kadi I). Bei einer Verlängerung der Listung muss die Anhörung jedoch vor der Entscheidung erfolgen (Kadi II).

3. Bewertung nach EU-Recht: Festgestellte Rechtsverstöße

Das Gutachten identifiziert eine Reihe von Verstößen gegen das EU-Recht, insbesondere gegen die Charta der Grundrechte.

3.1 Mangelnde Rechtsgarantien (Art. 215 Abs. 3 AEUV)

Die Verordnung (EU) 2024/2642 verstößt gegen Artikel 215 Absatz 3 AEUV, da sie keine „notwendigen Bestimmungen über Rechtsgarantien“ enthält. Der Rechtsakt informiert die Betroffenen nicht über die ihnen zur Verfügung stehenden gerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten, was angesichts der massiven Eingriffe in ihre Rechte zwingend erforderlich wäre.

3.2 Verletzung von Grundrechten (Charta der Grundrechte)

Das Sanktionsregime kollidiert mit einer Vielzahl von in der EU-Grundrechtecharta verankerten Rechten.

Grundrecht (Charta)Festgestellter Verstoß
Art. 41: Recht auf gute VerwaltungDas Fehlen einer Anhörung vor der Listung ist rechtswidrig. Die im Terrorismuskontext (Kadi I) angeführte Begründung des "Überraschungseffekts" ist bei Desinformation nicht übertragbar, da es hier um Worte und nicht um die Finanzierung von Gewalttaten geht.
Art. 11: MeinungsfreiheitDer Eingriff ist nicht gerechtfertigt: 1. Mangelnde Gesetzesqualität: Der Begriff "Informationsmanipulation und Einmischung" ist zu vage, um vorhersehbar zu sein. 2. Unverhältnismäßigkeit: Die Sanktionen sind nicht auf Fälle beschränkt, in denen eine Falschinformation offensichtlich ist und ihr destabilisierender Beitrag offensichtlich ist. Der breite Anwendungsbereich hat einen erheblichen "Chilling Effect".
Art. 15 & 16: Berufsfreiheit / Unternehmerische FreiheitDas pauschale "Bereitstellungsverbot" macht es in der EU ansässigen Personen praktisch unmöglich, einer bezahlten Arbeit nachzugehen oder ein Geschäft zu führen. Dies verletzt das Wesen dieser Rechte.
Art. 8: Schutz personenbezogener DatenDie Veröffentlichung der Listungsgründe und der Privatadresse der Betroffenen ist unverhältnismäßig. Zur Information der Person wären mildere Mittel (direkte Mitteilung) ausreichend und geboten.
Art. 45: Freizügigkeit (EU-Bürger)Pauschale Reiseverbote für EU-Bürger sind unverhältnismäßig. Bestehende Regelungen zur Einschränkung der Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung (z.B. in der Richtlinie 2004/38/EG) wären ein ausreichenderes und milderes Mittel.
Art. 35: GesundheitsschutzDie Regelung, dass Ausgaben für medizinische Behandlungen und Medikamente einer behördlichen Genehmigung bedürfen (Ausnahmeregelung statt Befreiung), ist unverhältnismäßig und widerspricht dem Gebot eines hohen Gesundheitsschutzniveaus.
Art. 17 & 7: Eigentumsrecht / Privat- und FamilienlebenObwohl die Eingriffe in diese Rechte vom EuGH grundsätzlich als zulässig erachtet werden, sind sie im vorliegenden Fall aufgrund des schweren Verfahrensmangels (fehlende Anhörung) rechtswidrig.

4. Bewertung nach Völkerrecht (IPBPR)

Das Gutachten analysiert das Sanktionsregime auch im Lichte des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR), insbesondere Artikel 19 zur Meinungsfreiheit. Jede Einschränkung dieses Rechts muss drei Bedingungen erfüllen: Sie muss gesetzlich vorgesehen, zur Verfolgung eines legitimen Ziels erforderlich und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein.

  • Gesetzlich vorgesehen: Dieser Test wird nicht bestanden. Die verwendeten Begriffe wie "Informationsmanipulation und Einmischung" sind zu vage und unpräzise. Sie verleihen dem Rat eine uneingeschränkte Ermessensfreiheit und ermöglichen willkürliche Anwendungen, was dem Gebot der Rechtssicherheit widerspricht.
  • Legitimes Ziel: Die von der EU verfolgten Ziele (Schutz der Demokratie, Sicherheit etc.) könnten zwar unter die im IPBPR genannten legitimen Ziele ("nationale Sicherheit", "öffentliche Ordnung") fallen.
  • Notwendigkeit: Die Maßnahmen sind nicht verhältnismäßig. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die am wenigsten einschneidende Maßnahme gewählt wird. Die umfassenden Sanktionen gegen Einzelpersonen wegen Meinungsäußerungen und die nur eingeschränkte gerichtliche Kontrolle der EU-Gerichte in diesem Bereich erfüllen diesen strengen Standard nicht.

Das Gutachten schließt, dass die EU mit diesen Maßnahmen von der traditionellen liberalen Auffassung der Grundfreiheiten abweicht und Zensurmaßnahmen einsetzt, die zur Erreichung der erklärten Ziele ungeeignet sind.

5. Klagemöglichkeiten des Europäischen Parlaments

Die Analyse der Klagebefugnis des Europäischen Parlaments fällt zweigeteilt aus:

  1. Gegen den Beschluss (GASP) 2024/2643: Da dieser Rechtsakt im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) erlassen wurde, ist die Zuständigkeit des EuGH stark eingeschränkt (Art. 275 AEUV). Eine Klage wäre nur wegen eines Verstoßes gegen Art. 40 EUV (Abgrenzung der Zuständigkeiten) möglich. Basierend auf der Rosneft-Rechtsprechung sind die Erfolgsaussichten einer solchen Klage "nahezu null".
  2. Gegen die Verordnung (EU) 2024/2642: Diese Verordnung wurde auf Grundlage von Art. 215 AEUV erlassen, weshalb der EuGH hier die volle Zuständigkeit zur Überprüfung hat. Das Europäische Parlament kann daher eine Nichtigkeitsklage gegen diese Verordnung erheben und die im Gutachten festgestellten Rechtsverstöße (insbesondere die Grundrechtsverletzungen und den Mangel an Rechtsgarantien) geltend machen.

6. Anhang: Beispiele für Listungsgründe

Der Anhang des Gutachtens listet die sanktionierten Personen und die offiziellen Begründungen auf. Diese Beispiele illustrieren die praktische Anwendung der als vage kritisierten Kriterien. So werden Personen gelistet, weil sie:

  • einen Blog betreiben, in dem sie "systematisch Falschinformationen" über den Krieg verbreiten (z.B. Alina Lipp, Thomas Röper).
  • in den sozialen Medien die russische Darstellung unterstützen und westliche Länder kritisieren (z.B. Nathalie Yamb).
  • als Gründer einer Medienfirma fungieren, die "systematisch Falschinformationen" verbreitet (z.B. Hüseyin Doğru).
  • für die technische Infrastruktur verantwortlich sind, die die Verbreitung russischer Staatspropaganda in besetzten Gebieten ermöglicht (z.B. Andrey Romanchenko).

Diese Begründungen zeigen die weite Auslegung der Kriterien und untermauern die Bedenken des Gutachtens hinsichtlich der Rechtssicherheit und der Meinungsfreiheit.

Weitere Aktuelle Fälle

15.12.2025 , Deutsch

Die Entscheidung des EU-Rats für Auswärtige Angelegenheiten, weitere europäische Bürger zu sanktionieren – darunter den ehemaligen Schweizer Geheimdienstoffizier und pensionierten Oberst Jacques Baud stellt einen weiteren schweren Schlag gegen die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union dar. Mit den nun beschlossenen Maßnahmen gegen Jacques Baud wegen angeblicher ‚Desinformationsaktivitäten‘ versucht die politische Elite der EU einen der renommiertesten Analysten des Ukrainekrieges zum Schweigen zu bringen, sagt von der Schulenburg. „Die EU nutzt die Sanktionsliste als Instrument gegen Kritiker und manövriert sich immer weiter in einen Abgrund der Gesetzlosigkeit“, so Ruth Firmenich

Erstellt: 18.12.2025 - 12:51  |  Geändert: 18.12.2025 - 21:46