ca. 1972
Gewalt - Umwelt - Identität - Methode
Um das Jahr 1972 wich das Vertrauen in die Nachkriegsordnung und die Fortschrittsmechanik der Moderne einer Atmosphäre von Ernüchterung, Verbitterung und Angst. Reihenweise zerplatzten damals die hochgespannten Erwartungen der 1960er Jahre an revolutionäre Veränderungen. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Tom Holerts Text/Bild-Essay führt vor, warum es lohnenswert ist, sich mit der historischen Entität "ca. 1972" aufs Neue zu beschäftigen.
Statt sich auf kanonische Personen und Ereignisse zu konzentrieren, verarbeitet das Buch die historischen Fliehkräfte und rückt - vermeintlich - weniger einschlägige Akteure und Situationen ins Zentrum. Statt in der Linearität einer ereignishistorischen Erzählung konfigurieren sich die Aufschübe und Aufbrüche des Jahres 1972 so zu schillernden Gefügen kultureller, intellektueller und ästhetischer Zusammenkünfte und Zusammenbrüche.
Ein Ausgangspunkt ist die visuelle Kultur der Zeit. Fotografien, Filme, Bücher, Zeitschriften, Werke bildender Kunst handeln von Unabgegoltenem und bezeugen das Denken und Handeln radikaler Zeitgenoss·innen. Auch weil politische Euphorie und Frustration immer wieder in terroristischen Akten mündeten, sollte der solidarische Transfer von Erfahrungen und Wissen dabei helfen, die Kämpfe trotz allem fortzusetzen. Dabei stellt sich heraus: "Gewalt" ist "ca. 1972" eine unumgängliche Trope der Selbstbeschreibungen und -diagnosen. So erweist sich ca. 1972 auch als ein Raum zirkulierender Methoden und Theorien - und als der Name einer Methode, Geschichte zu schreiben.
Die Kunst ist nie unschuldig: Die 1970er als Stresstest: Tom Holert verbindet in dem Band "ca. 1972" das Politische mit dem Ästhetischen. Ein Glücksfall, dass es ein solches Buch heute noch geben kann, in dem man über das Bild in den Text hineinfliegt: Eine Welle von Unwahrscheinlichkeiten spült dieses Buch im Kunstkatalogformat, reich illustriert und von Elias Erkan gestaltet, in die Wahrnehmungskanäle dieses Frühjahrs. Ein Wunder (und ein Geschenk), dass der Berliner Autor, Lehrende und Kurator Tom Holert "ca. 1972" überhaupt fertiggestellt hat, im Verlag Spector… [mehr hinter der Bezahlschranke] Von Tobi Müller Monopol Magazin 17.05.2024
INTERVIEW: Sachbuch-Preisträger Holert: Die frühen 70er in Texten und Bildern: Der Autor Tom Holert hat den Leipziger Sachbuch-Preis für seinen Text-Bild-Essay über die frühen 70er-Jahre erhalten. In „'ca. 1972‘: Gewalt – Umwelt – Identität – Methode“ zeige er kultur- und umweltpolitische Kämpfe in anderen Weltregionen, sagt er. [Podcast 05:36] Mit Tom Holert Deutschlandfunk 22.03.2024
Pressenotizen Perlentaucher
Der Autor
Tom Holert arbeitet als Kulturwissenschaftler und Kurator. Im Jahr 2015 gründete er mit anderen das Harun Farocki Institut, eine Archiv- und Forschungsplattform zu Bildpolitik und Dokumentarismus in Berlin. Aktuellere Buchveröffentlichungen: Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930 (Hg., mit Anselm Franke, Diaphanes, 2018; Katalog der gleichnamigen Ausstellung im HKW, Berlin), Knowledge Beside Itself: Contemporary Art's Epistemic Politics (Sternberg Press, 2020) und Bildungsschock. Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren (Hg, 2020, Katalog der gleichnamigen Ausstellung im HKW, Berlin).
Der Designer
Erkan, Elias (*1993) ist Grafikdesigner. Er studierte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, arbeitete beim Verlag Spector Books und ist momentan Teilnehmer des Werkplaats Typografie Programms in Amsterdam. Zusammen mit Bettina Nagler arbeitet er zum Thema Repräsentations- und Narrationsstrategien in der Architektur.
Erstellt: 13.02.2025 - 11:21 | Geändert: 18.02.2025 - 12:57