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Judith Scheytt über Aktivismus, Medienkritik und die Gaza-Flotilla
Jung & Naiv: Folge 800
Zusammenfassung
Dieses Briefing-Dokument fasst die zentralen Aussagen der Klima- und Menschenrechtsaktivistin Judith Scheytt aus einem ausführlichen Interview zusammen. Die Kernthemen umfassen ihre fundamentalen Positionen, die Kontroverse um die Aberkennung ihres "Don-Media-Awards", ihre scharfe Kritik an der deutschen Medienlandschaft und der deutschen Sektion von Fridays for Future (FFF) sowie ihre direkte Teilnahme an der Gaza-Flotilla im September 2025, die zu ihrer Festnahme und Inhaftierung in Israel führte.
Die wichtigsten Erkenntnisse sind:
- Der "Don-Media-Award"-Skandal: Scheytt erhielt den Preis für medienkritische Inhalte, der ihr jedoch nach externem Druck, insbesondere von der "Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit", wieder aberkannt wurde. Der Verein "Freunde des Grimme-Preises" unter dem Vorsitz von Jörg Schieb lieferte widersprüchliche und nachweislich falsche Begründungen für die Aberkennung. Der Fall deckt externen Einfluss auf Medieninstitutionen und einen Mangel an institutioneller Integrität auf.
- Fundamentale Medienkritik: Scheytt kritisiert die deutsche Medienberichterstattung zum Nahostkonflikt als systematisch voreingenommen. Sie argumentiert, dass Narrative geschaffen werden, die Massaker an Palästinensern rechtfertigen, während Gräueltaten wie die des 7. Oktobers detailliert und emotionalisierend dargestellt werden, um militärische Reaktionen zu legitimieren. Ihre eigene Politisierung in diesem Bereich wurde durch die wahrgenommene Einseitigkeit nach dem 7. Oktober 2023 massiv verstärkt.
- Kritik an Fridays for Future Deutschland: Scheytt, ein ehemaliges Mitglied, beschreibt eine tiefe Spaltung zwischen FFF Deutschland und der internationalen Bewegung. Sie wirft der deutschen Sektion vor, aus Angst vor negativer medialer Rezeption eine Strategie der "Anschlussfähigkeit" zu verfolgen. Dies führe zur Vermeidung systemkritischer Themen wie Kapitalismus und zur aktiven Behinderung der Palästina-Solidarität, was einen Bruch mit den intersektionalen Zielen der globalen Klimagerechtigkeitsbewegung darstelle.
- Teilnahme an der Gaza-Flotilla: Als Teil der "Sumud Flotilla" versuchte Scheytt, humanitäre Hilfe nach Gaza zu bringen und die israelische Seeblockade zu durchbrechen. Die Mission war von Angriffen durch israelische Drohnen geprägt, bevor sie schließlich von der israelischen Marine aufgebracht wurde. Scheytt und andere Aktivisten wurden festgenommen, in ein Hochsicherheitsgefängnis gebracht und erlebten dort psychologische Druckmittel. Die konsularische Unterstützung durch Deutschland wird als mangelhaft beschrieben. Die Aktion resultierte in ihrer Abschiebung und einem Einreiseverbot nach Israel.
- Verbindung von Klima- und Palästina-Aktivismus: Scheytt argumentiert, dass Klimagerechtigkeit untrennbar mit antikolonialen Kämpfen verbunden ist. Sie zieht eine direkte Linie von der kolonialen Ausbeutung durch fossile Konzerne zur heutigen Unterdrückung indigener Völker und zur Besatzung Palästinas, wo Ressourcenkontrolle und "Öko-Apartheid" zentrale Instrumente der Unterdrückung seien.
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I. Profil der Aktivistin Judith Scheytt
Judith Scheytt, geboren 2007 in Baden-Württemberg, bezeichnet sich selbst als Klima- und Menschenrechtsaktivistin. Ihr Aktivismus begann früh, unter anderem mit der Teilnahme an Demonstrationen gegen Stuttgart 21 als Kind und später bei Fridays for Future.
Motivation und Grundwerte
- Gerechtigkeit als Antrieb: Scheytts grundlegende Motivation ist die Beobachtung von "ungerechten Dingen in unserer Welt", die "relativ auch offensichtlich sind".
- Lehren aus dem Holocaust: Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust prägte ihre Überzeugung, "dass man nicht bei Ungerechtigkeit einfach zusehen darf, sondern dass jeder die menschliche Pflicht hat, eben sich zu positionieren."
- Kritik an unbedingter Loyalität: Aus dem Holocaust leitet sie die Lehre ab, niemals einer staatlichen oder herrschenden Struktur "unbedingte Solidarität" zu schwören. Ihre Solidarität gelte Menschen (z.B. jüdischen Menschen, Sinti und Roma, queeren Menschen), aber nicht veränderbaren staatlichen Strukturen.
- Ablehnung des "Existenzrechts" von Staaten: Konsequenterweise spricht sie weder Israel noch Deutschland oder einem zukünftigen Palästina ein "Existenzrecht" zu, da dies völkerrechtlich nicht existiere und Staaten und ihre Grenzen historisch wandelbar seien.
Akademischer und persönlicher Hintergrund
- Schulzeit: Sie beschreibt ihre Schulzeit als schwierig, was sie teilweise auf eine späte ADHS-Diagnose (mit 16) zurückführt. Sie hatte wiederholt Konflikte mit Lehrkräften, deren Autorität sie nicht automatisch anerkannte.
- Abitur und Zukunftspläne: Ihr Abitur absolvierte sie im Jahr 2025. Sie erwägt ein Studium des internationalen Rechts, äußert aber die Sorge, "am Ende auf Panels [zu] sitzen und halt einfach nur [zu] reden".
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II. Medienkritik und der "Don-Media-Award"-Skandal
Im Januar 2025 wurde Scheytt überraschend der "Don-Media-Award", ein Sonderpreis des Vereins "Freunde des Adolf-Grimme-Preises", für ihre medienkritischen Inhalte auf Instagram und TikTok zugesprochen. Die darauffolgende Aberkennung des Preises entwickelte sich zu einem vielbeachteten Skandal.
Auslöser der Medienkritik
Scheytts intensive Medienkritik begann im November 2023, ausgelöst durch ein Video eines Journalisten der Zeit, der die hohe Zahl ziviler Opfer in Gaza mit der "Human Shields"-Taktik der Hamas erklärte und die Bemühungen der israelischen Armee hervorhob. Sie empfand dies als unjournalistisch und als Teil eines größeren, strukturellen Problems. Nach dem 7. Oktober 2023 stellte sie fest, dass in deutschen Medien "wirklich jetzt ganz direkt Massaker rechtfertigt" wurden. Dies sei nicht mehr nur ein Symptom einer qualitätsschwachen Medienlandschaft, sondern "einer der Hauptpunkte, die [...] die Qualität unserer Medienlandschaft weiter zu verschlechtern".
Chronologie des Skandals
| Datum/Zeitraum | Ereignis | Details und Zitate |
| Januar 2025 | Anruf & Preisankündigung | Der Verein "Freunde des Adolf-Grimme-Preises" informiert Scheytt telefonisch, dass eine sechsköpfige Jury einstimmig entschieden habe, ihr den Preis zu verleihen. Scheytt kannte weder den Verein noch den Preis. |
| Ende Januar 2025 | Preisverleihung | Scheytt hält eine 5-minütige Rede, in der sie die Ehrung auch "für meine palästinensischen Freunde" und Journalist:innen annimmt. Die Rede erhält laut ihr viel Applaus. Der Vereinsvorsitzende Jörg Schieb äußert sich auf der Bühne beeindruckt und hofft, "dass er nie in den Fokus meiner Kritik gerät". |
| Februar 2025 | Externer Druck | Die "Kölnische Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit" protestiert beim Verein und fordert die Aberkennung des Preises. |
| 8. April 2025 | Ankündigung der Aberkennung | Der Verein ruft Scheytts Mutter an und kündigt an, ihr den Preis "fristen zocken" (sic) zu wollen. Im Telefonat mit Scheytt wird explizit "großer Druck" und die Drohung einer "Medienkampagne" als Grund genannt. |
| Ende Mai/Anfang Juni 2025 | Offizielle Aberkennung | Zwei Tage vor ihrer mündlichen Abiturprüfung erhält Scheytt eine E-Mail, in der ihr der Preis offiziell aberkannt wird. |
| September 2025 | Öffentlichmachung | Scheytt macht den Vorgang in einem Instagram-Video öffentlich, was zu einem breiten Medienecho und Solidaritätsbekundungen führt. |
Widersprüchliche Begründungen des Vereins
Der Vereinsvorsitzende Jörg Schieb (Digitalexperte beim WDR) rechtfertigte die Aberkennung in einem Interview mit den "Ruhrbaronen" mit einer Reihe von Behauptungen, die Scheytt als Falschaussagen darstellt:
- Behauptung Schieb: Scheytt sei eine "unverholene Aktivistin" und hätte "niemals ausgezeichnet werden dürfen".
- Scheytts Entgegnung: Die Satzung des Vereins erlaubt explizit Ehrungen für "besondere Aktivitäten". Ihr Aktivismus war der Jury bekannt und wurde in der ursprünglichen Ehrungsbegründung sogar positiv erwähnt und "prämiert".
- Behauptung Schieb: Er habe bereits bei der Verleihung "sehr, sehr starke Magenschmerzen" gehabt und es habe viel Kritik an ihrer Rede gegeben.
- Scheytts Entgegnung: Sie hat keinerlei negative Reaktionen wahrgenommen. Im Gegenteil, Schieb selbst und die Leiterin des Grimme-Instituts hätten ihre Rede öffentlich und persönlich gelobt.
- Behauptung Schieb: Man habe mit der Information über die Aberkennung bis nach ihrem Abitur gewartet.
- Scheytts Entgegnung: Dies ist eine nachweisbare Falschaussage. Der erste Anruf erfolgte am 8. April, mitten in ihrer Abiturvorbereitung. Die offizielle Mail kam zwei Tage vor ihrer mündlichen Prüfung.
- Behauptung Scheytt: Ihr sei vorgeworfen worden, die als Preis überreichte Statue "demoliert" zurückgeschickt zu haben.
- Scheytts Kommentar: Sie erfuhr von diesem Vorwurf durch eine Journalistin und weist ihn als absurd zurück. "Ich habe wirklich besseres zu tun, als in meinem Kinderzimmer zu sitzen und fröhlich auf kleine Metallstatuen einzuschlagen."
Das 39-seitige "Gutachten"
Zur Rechtfertigung der Aberkennung wurde ein 39-seitiges Gutachten verbreitet, das laut Scheytt Anzeichen einer KI-Generierung aufweist. Dieses Gutachten wirft ihr Antisemitismus vor, basierend auf Falschbehauptungen:
- Vorwurf im Gutachten: Sie habe die Geiselnahme der Hamas nicht als Kriegsverbrechen bezeichnet.
- Realität: Sie hat dies in ihren Videos explizit getan und es als nach internationalem Recht verboten bezeichnet.
- Vorwurf im Gutachten: Für die Behauptung, Israel begehe einen Genozid, gebe es keine völkerrechtliche Basis.
- Realität: Führende Genozidforscher (z.B. Omer Bartov), internationale Gremien (UN-Kommission) und NGOs (z.B. B'Tselem) sehen erhebliche Anzeichen für einen Genozid.
Scheytt kritisiert zudem, dass Schieb in seinem Interview Israel und Juden gleichsetzt ("die einzige Motivation etwas gegen Israel zu tun und damit und damit gegen Juden zu tun ist Antisemitismus"), was nach gängigen Definitionen selbst eine antisemitische Aussage darstellt.
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III. Kritik an Fridays for Future Deutschland (FFF)
Scheytt, die Anfang 2024 aus FFF Deutschland ausgetreten ist, übt fundamentale Kritik an der Strategie und den Strukturen der deutschen Bewegung.
- Strategie der Medien-Anschlussfähigkeit: Der Kern ihrer Kritik ist, dass FFF Deutschland seine Forderungen und seine Sprache an die Wahrnehmung in den deutschen Massenmedien anpasst. Man diskutiere intern ständig darüber, "wie wird es von Medien wahrgenommen", was dazu führe, dass man sich "selber verleugnet" und Positionen verändert.
- Vermeidung von Systemkritik: Begriffe wie "Kapitalismus" würden vermieden, um die "bürgerliche Mitte" nicht abzuschrecken. Dies führe zu einer entpolitisierten Form des Aktivismus, die die Machtfrage ignoriere.
- Nähe zur Grünen Partei: Sie kritisiert die enge Verbindung vieler FFF-Aktivist:innen zu den Grünen. Dies untergrabe die Rolle der Bewegung als oppositionelle Kraft, die Druck auf die Regierung ausüben muss.
- Bruch mit FFF International wegen Palästina: Scheytt beschreibt einen tiefen Graben zur internationalen Bewegung. Ein Schlüsselmoment war 2021, als FFF Deutschland sich nach angeblichem Druck eines großen deutschen Mediums öffentlich von einem solidarischen Post von FFF International distanzierte und diesen als antisemitisch bezeichnete. Diese Entscheidung sei nicht demokratisch legitimiert gewesen. Nach dem 7. Oktober 2023 habe sich FFF Deutschland endgültig von der internationalen Bewegung getrennt.
- Strukturelle Probleme: Die Bewegung werde von wenigen, "sehr wenigen weißen Gesichtern" repräsentiert, und es gebe ein "Gatekeeping", das internationale Debatten von der Basis fernhalte.
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IV. Die Verbindung von Klimagerechtigkeit und Palästina-Solidarität
Scheytt argumentiert, dass ein intersektionaler Ansatz unerlässlich ist, um die Klimakrise zu verstehen.
- Kolonialismus als Wurzel: Die Klimakrise sei ohne fossile Energien nicht zu erklären, deren Geschichte wiederum untrennbar mit dem Kolonialismus und der gewaltsamen Ausbeutung im Globalen Süden verbunden ist (Beispiel: Royal Niger Company/Shell in Nigeria).
- "Öko-Apartheid": In besetzten Gebieten wie Palästina werde die Natur zur "politischen Waffe". Ressourcen wie Wasser würden so ungleich verteilt, dass man von "Öko-Apartheid" sprechen könne, bei der bestimmte Bevölkerungsgruppen systematisch benachteiligt werden.
- Klimavulnerabilität: Die Folgen der Klimakrise (z.B. Stürme, Wasserknappheit) treffen Menschen in Gaza aufgrund der zerstörten Infrastruktur und der Blockade ungleich härter als Menschen im nahegelegenen Israel, obwohl die geografischen Risikofaktoren ähnlich sind.
- Zentrales Zitat: Sie zitiert Greta Thunberg: "There is no climate justice on occupied land" (Es gibt keine Klimagerechtigkeit auf besetztem Land), weil dort Ressourcen kontrolliert und als Waffe eingesetzt werden.
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V. Teilnahme an der Gaza-Flotilla ("Sumud Flotilla")
Im September 2025 nahm Scheytt an der "Sumud Flotilla" teil, einer internationalen Koalition von Schiffen, die humanitäre Hilfe nach Gaza bringen wollte.
Ziele und Vorfälle
- Doppeltes Ziel: Die Flotilla zielte darauf ab, (1) dringend benötigte Hilfsgüter (Medizin, Babynahrung) zu liefern und (2) symbolisch die als völkerrechtswidrig angesehene Seeblockade des Gazastreifens zu durchbrechen und deren Unnatürlichkeit aufzuzeigen.
- Angriffe vor der Interception: Bereits vor der finalen Konfrontation wurde die Flotilla mehrfach von israelischen Drohnen angegriffen. Zwei Leitschiffe wurden im Hafen von Tunis attackiert. Später, vor der Küste Kretas, wurden die Masten mehrerer Schiffe gezielt mit Drohnen beschossen, um sie fahruntüchtig zu machen.
Interception, Festnahme und Haft
- Aufbringung auf See (1./2. Oktober): In internationalen Gewässern, ca. 60 Seemeilen vor Gaza, wurde die Flotilla von der israelischen Marine gestoppt. Soldaten enterten die Schiffe.
- Ankunft in Aschdod und Demütigung: Nach stundenlanger Fahrt wurden die Aktivist:innen im Hafen von Aschdod gezwungen, gefesselt zu knien. Der israelische Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, war persönlich anwesend und beschimpfte die Gefangenen: "You are baby killers".
- Haftbedingungen: Scheytt wurde für fünf Tage in einem Hochsicherheitsgefängnis inhaftiert. Sie berichtet von folgenden Bedingungen:
- Psychologischer Druck: Ständige Verlegung zwischen Zellen, Schlafentzug durch laute Musik (Bilder vom 7. Oktober in Dauerschleife), extreme Kälte in Transportbussen, extrem helles Licht.
- Mangelnde Versorgung: Teilweise verunreinigtes, braunes Trinkwasser und verdorbenes Essen.
- Einschüchterung: Nächtliche Razzien von Spezialeinheiten mit Hunden, ständige Präsenz von Scharfschützen.
- Rolle der deutschen Botschaft: Ein Konsularbeamter besuchte die deutschen Gefangenen, nahm ihre Berichte über die Haftbedingungen auf. Die Bundesregierung behauptete später jedoch, ihr lägen keine derartigen Erkenntnisse vor. Bei der Abschiebung in Athen bot die deutsche Botschaft lediglich ein "Merkblatt" an, wie die Familien Geld für die Heimflüge schicken könnten ("Hilfe zur Selbsthilfe").
- Konsequenzen: Scheytt lehnte es ab, ein Dokument zur "freiwilligen Abschiebung" zu unterschreiben. Sie wurde schließlich deportiert und erhielt ein lebenslanges bzw. hundertjähriges Einreiseverbot für Israel.
Erstellt: 25.12.2025 - 16:44 | Geändert: 25.12.2025 - 17:22

