Irgendwo in diesem Dunkel
In "Sie kam aus Mariupol", ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, hat Natascha Wodin ihrer Mutter ein berührendes literarisches Denkmal gesetzt. Jetzt lässt sie ein Buch folgen, das an den Freitod der Mutter 1956 anschließt. Erzählt wird die Zeit, als die ältere der beiden Töchter sechzehn ist, ein mehrjähriger Aufenthalt in einem katholischen Kinderheim liegt hinter ihr. Sie lebt beim Vater in den "Häusern" am Fluss, abseits vom deutschen Städtchen, unter Verschleppten und Entwurzelten in einer Welt außerhalb der Welt. Dabei möchte sie so gern zu den Deutschen gehören, möchte Ursula oder Susanne heißen und träumt von einem Handwerker, den sie heiraten könnte, um ihrer russischen Herkunft zu entkommen. Aber der seit je gefürchtete Vater sperrt sie ein. Sie soll keine roten Schuhe tragen, sie soll zu Hause putzen. In einem Taftkleid der Mutter flieht sie in die Vogelfreiheit, die Schutzlosigkeit der Straße.
Diese Geschichte eines Mädchens, das als Tochter ehemaliger Zwangsarbeiter im Nachkriegsdeutschland lebt - misstrauisch beäugt und gemieden von den Deutschen, voller Sehnsucht, endlich ein Teil von ihnen zu sein -, wird aus dem Rückblick erzählt, ausgehend vom Tod des Vaters in einem deutschen Altenheim. Sein Leben, das noch in der russischen Zarenzeit begonnen hat und fast das gesamte 20. Jahrhundert überspannt, ist für die Tochter immer ein Geheimnis geblieben. Irgendwo in diesem Dunkel, hinter all dem Schweigen, sucht sie den Schlüssel zum Verstehen. Eine ungeheuerliche Geschichte der Ort- und Obdachlosigkeiten, erzählt in der klaren, um Sachlichkeit bemühten und doch von Emotion und Poesie getragenen Sprache Natascha Wodins, die ihresgleichen sucht.
Die vergessene Nachkriegszeit. In einer neuen Reihe erläutert die Literaturkritikerin Sigrid Löffler, was das Feuilleton übersehen hat. Zum Beginn: die Jahre 1945 und 1946. Denn nun sind mehrere Romane erschienen, die sich den Jahren widmen und beachtet werden sollten. Von Sigrid Löffler → Deutschlandfunk Kultur 01.11.2018
Eine Außenseiterin und ihr rätselhafter Vater. Das gesamte literarische Werk Natascha Wodins ist autobiografisch grundiert und kreist um ein einziges Thema – die Suche nach Selbstvergewisserung, nach einer eigenen Identität. Sie sieht sich als „Displaced Person“ – ohne Geschichte, ohne festen Ort in der Welt, überall fremd und nirgends zugehörig. Rezension von Sigrid Löffler → Deutschlandfunk Kultur 28.08.2018
„Die Sagen seines Lebens, über deren Wahrheit ich nichts weiß.“ Der Holocaust ist in Deutschland Familiengeschichte für die Täter und ebenso für die Verfolgten und die Opfer. Drei Autorinnen legen mit ihren Väter-Biografien Zeugnis davon ab. Aus drei Perspektiven entsteht so eine deutsche Gewaltgeschichte:
- Natascha Wodin: „Irgendwo in diesem Dunkel“, Rowohlt Verlag 2018, 240 S., 20 €
- Barbara Honigmann: „Georg“, Hanser Verlag 2019, 160 S., 18 €
- Wencke Mühleisen: „Du lebst ja auch für Deine Überzeugung“, Zsolnay Verlag 2020, 288 S., 23 € Von Sabine Voss Deutschlandfunk Kultur 17.01.2020
Presse:
Das sind Sätze, die treffen einen in ihrem lakonischen Ton ungeschützt ins Mark. Dresdner Neueste Nachrichten
Eine Sprache, die nichts beschönigt und die gerade daraus eine Poesie der Unerbittlichkeit gewinnt. republik.ch
Eine ungemein intensive Dokumentation des Schicksals eines Zwangsarbeiterkindes aus dem letzten Kriegsjahr, das zwar in der Bundesrepublik aufwächst, aber in einer Welt, die auch einem Zeitgenossen verborgen geblieben ist. (...) Ein bedrückendes, ein wichtiges Buch, ungemein intensiv erzählt. Lesenswert
Über den dokumentarischen Charakter hinaus sollte aber vor allem die herausragende literarische Qualität dieses Romans hervorgehoben werden. FAZ
"Irgendwo in diesem Dunkel" findet Wodin das gedemütigte Kind und sie zeigt, wie mühsam es sich emanzipierte. Das hat eine immense Wirkung, weil der Abstand zwischen der Kindheit und dem Erwachsenenleben der Autorin riesig ist. (...) Hier zeigt sich ihre Kunst. Frankfurter Rundschau
Ein hartes, aber kein bitteres Buch. (...) Es lässt mitleiden und mitfühlen und demonstriert, wie aus einem geplagten Menschenkind eine bedeutende Autorin werden kann. Das ist große, bemerkenswerte Literatur von einer beeindruckenden sprachlichen Kraft. BR
Das alles, samt der unglaublichen Geschichte ihrer Jugendjahre, erzählt Natascha Wodin in dieser klaren, undramatischen und unlarmoyanten Sprache, die schon in „Sie kam aus Mariupol“ in heftigem Kontrast zu den Erzählinhalten stand. taz
Wer wissen will, was Ausgrenzung für die Betroffenen konkret bedeutet, muss das neue Buch von Natascha Wodin lesen. (...) Dass die Siebzehnjährige doch noch ihren Weg aus der Obdachlosigkeit fand, (...) aus ihr später eine Dolmetscherin, Übersetzerin und schließlich eine großartige Schriftstellerin wurde, grenzt an ein Wunder. Zum Glück für ihre LeserInnen. WOZ Die Wochenzeitung
Mit dem Doppel der autobiografischen Bücher über ihre Eltern hat Natascha Wodin sich einen Platz in der vordersten Linie der deutschen Literatur erobert. der Freitag
Ein Buch, das die Schrecken und das Grauen des 20. Jahrhunderts in unsere Gegenwart transportiert – eine sehr beeindruckende Lektüre. ARD "Druckfrisch"
Die Balance zwischen persönlichem und sachlichem Ton gelingt Natascha Wodin grandios. (…) Der Roman kommt ganz ohne Metaphern aus, das Geschehen wird sparsam, aber äußerst wirkungsvoll geschildert. Gerade diese Strenge reißt den Leser mit. Der Tagesspiegel
Wodin ist eine Meisterin des genauen Hinschauens (…) 'Irgendwo in diesem Dunkel' kommt mit ungeheurer Wucht daher und zieht den Leser in einen Sog, aus dem er erst nach der letzten Seite wieder auftaucht. MDR
Die Autorin:
Natascha Wodin, 1945 als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter in Fürth/Bayern geboren, wuchs erst in deutschen DP-Lagern, dann, nach dem frühen Tod der Mutter, in einem katholischen Mädchenheim auf. Auf ihr Romandebüt "Die gläserne Stadt", das 1983 erschien, folgten etliche Veröffentlichungen, darunter die Romane "Einmal lebt ich", "Die Ehe" und "Nachtgeschwister". Ihr Werk wurde unter anderem mit dem Hermann-Hesse-Preis, dem Brüder-Grimm-Preis und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet, für "Sie kam aus Mariupol" wurde ihr der Alfred-Döblin-Preis, der Preis der Leipziger Buchmesse und der August-Graf-von-Platen-Preis verliehen. Natascha Wodin lebt in Berlin und Mecklenburg.
→ Natascha Wodin auf Wikipedia
Radiogeschichten: Natascha Wodin, "Irgendwo in diesem Dunkel"
→ Kalenderblatt Youtube ca. März 2019
Erstellt: 15.03.2020 - 08:28 | Geändert: 10.01.2023 - 10:57