Der Nachtwächter. Von Louise Erdrich. Rezension von Britta Kiersch

Der Nachtwächter. Von Louise Erdrich Aufbau Verlag ISBN 978-3-351-03857-1
„Am 1. August 1953 verabschiedete der Kongress der Vereinigten Staaten eine Resolution, mit der Verträge zwischen souveränen Nationen, gültig, ‚solange das Gras wächst und die Flüsse fließen‘, für nichtig erklärt wurden. Der Beschluss sah vor, langfristig sämtliche indianische Nationen aufzulösen, zu ‚terminieren‘, und für fünf Stämme, darunter der Turtle Mountain Band of Chippewa, sollte dies mit sofortiger Wirkung geschehen.“
Louise Erdrich setzt sich in ihrem Roman mit den historischen Verwicklungen um diese Resolution auseinander, die dafür sorgen sollte, Hunderttausende zu assimilieren und der Heimat zu berauben. „Der Nachtwächter“ Thomas Wazhashk setzt alles daran, das unvermeidlich scheinende, brutale Ende, das auf bürokratische Weise verfügt werden soll, zu verhindern.
Voller Entschlossenheit organisiert er den Widerstand gegen das Gesetzesvorhaben, der ihn und seine Mitstreiter bis ins Capitol bringt. Thomas wird nicht zum Helden stilisiert und das macht ihn als Figur noch beeindruckender. Louis Erdrich hat für diese Figur ein Vorbild in ihrer eigenen Familie, denn ihr Großvater mütterlicherseits hat wie Thomas viele Jahre mutig für indigene Rechte gekämpft. Aber dieser Erzählstrang, der weitgehend auf historischen Protokollen basiert, bildet lediglich den roten Faden des Romans. Großes Gewicht liegt auf den sozialen Verflechtungen, alltäglichen Verrichtungen und den Lebensgeschichten viele andere Menschen, die die Autorin in kurzen szenischen Passagen skizziert. Und so taucht man ein in eine Dorfgemeinschaft in einem Reservat in North Dakota, wo die Menschen versuchen, sich mit den Entwicklungen der Nachkriegszeit zu arrangieren.
So entwickelt Louis Erdrich ein Patchwork der vielgestaltigen Alltagswelt von Turtle Mountain. Und das unterscheidet ihren Roman von vielen anderen: Sie hat ihr eigenes schriftstellerisches Verfahren ohne den üblichen Spannungsaufbau und effekthascherische Wendepunkte oder Enthüllungen. Sie setzt ihrem Großvater kein Denkmal, sondern würdigt durch das Erzählen des Gewöhnlichen und Unspektakulären das Alltagsleben ihrer Vorfahren.
Erstellt: 12.12.2021 - 10:57 | Geändert: 12.12.2021 - 11:12