Das „lange Jahrhundert“ von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg markiert den Weg in die moderne Welt und erscheint als ein Zeitalter der Bewegung und des Wandels schlechthin. Denn damals bahnten sich in Deutschland wie in ganz Europa auf nahezu allen Gebieten des Zusammenlebens tiefgreifende Veränderungen an, deren Auswirkungen bis in unsere Gegenwart spürbar sind. Säkularisierung, Nationenbildung, Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und unerschütterliches Fortschrittsdenken kennzeichnen diese Epoche ebenso wie das Ringen um liberale Verfassungen oder auch neue Wege in der Kunst. Die Beschleunigung von Mobilität und Kommunikation war richtungsweisend; Technik und Naturwissenschaften mit all ihrer Vielfalt nahmen beispielhaften Aufschwung; Umbrüche in den Produktions- und Arbeitsformen führten ins industrielle Zeitalter, brachten aber gleichzeitig starke soziale Verwerfungen mit sich. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mehrten sich dann koloniale und imperiale Bestrebungen, die erhebliche internationale Spannungen hervorriefen. Auch für die katholische Kirche markiert diese Zeitspanne eine tiefgreifende Zäsur. Es erfolgten entscheidende Weichenstellungen, die bis heute Theologie und Spiritualität sowie das Verhältnis von Kirche und Staat prägen. Von den mannigfachen Entwicklungen können unsere „Historischen Tage“ natürlich nur einige Aspekte in den Blick nehmen, aber durchaus zentrale. Zum Thema „Die Soziale Frage als Kernproblem des 19. Jahrhunderts. Ursachen, Probleme, Lösungsansätze“ referierte Prof. Dr. Friedrich Lenger, Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Gießen.
In der Tradition der philosophischen und theologischen Ethik sowie der Praxis der Weltreligionen spielen verschiedene Formen des Verzichts eine erhebliche Rolle. Diesen Befund mag man nun begrüßen oder nicht - auf unsere Gegenwart lässt er sich jedenfalls nicht eins zu eins übertragen. Denn obwohl auch säkulare Zeitgenossen noch vor oder an christlichen oder jüdischen Feiertagen spenden oder fasten - Muslime tun gar beides im Monat Ramadan -, so ist das Stichwort des Verzichts (ebenso wie die Umfeldausdrücke der Askese und des Fastens) aus der öffentlichen Diskussion so gut wie verschwunden.
Zusammen mit dem Philosophen Prof. Dr. Otfried Höffe aus Tübingen und dem Moraltheologen Dr. Werner Veith aus München möchten wir dieser Tatsache aktiv entgegenwirken und die Logik des Verzichts neu ins Bewusstsein heben. Dabei werden wir jedoch keiner lebensfernen Utopie das Wort reden, sondern die Sachgründe zu erörtern suchen, die für eine Wiederentdeckung und Wiederbelebung des Verzichts sowie der ihm zugeordneten Tugend der Besonnenheit sprechen.
Allein die zahlreichen Probleme der Gegenwart - denken wir beispielsweise an die Impfstoffverteilung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie oder an die Bedrohung der globalen Ressourcenknappheit - fordern uns auf, den traditionellen Diskussionsrahmen einer personalen Ethik auf eine soziale und politische Ethik hin zu erweitern. Denn: „Will die moderne Zivilisation menschenwürdig überleben, benötigt sie ein erhebliches Maß sowohl an persönlichen als auch an einer wirtschaftlich- und gesellschaftspolitischen, nicht zuletzt an einer global wirksamen Besonnenheit“ (Otfried Höffe).
Prof. Dr. Otfried Höffe ist emeritierter Professor für Ethik, Politische Philosophie und Philosophie an den Universitäten Fribourg (Schweiz) und Tübingen.