Integrativer Marxismus. Dialektische Studien. Grundlegung. Von Thomas Metscher

Das vorliegende Buch stellt die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des Marxismus. Dieser ist, nach Auffassung des Verfassers, keine Theorie unter anderen innerhalb des Spektrums heute konkurrierender politisch-sozialer und philosophischer Theorien. Er ist eine philosophisch begründete Form kohärenten begrifflichen Wissens, die auf ein perspektivisches Ganzes der Welterkenntnis gerichtet ist, deren ultimatives Ziel die Veränderung der Welt ist; ihrer Veränderung im Sinne der Errichtung eines von Angst, Hass, Hunger und Gewalt befreiten, zum Frieden gereiften terrestrischen Gemeinwesens.

ISBN 978-3-946946-04-5 08.2017 25,00 € Portofrei Bestellen (Buch | Softcover)

Zu einem solchen Ziel beizutragen vermag der Marxismus nicht in jeder seiner überlieferten Formen, sondern allein in einer solchen, die das Vermögen besitzt, die Felder menschlichen Wissens weiträumig einzubeziehen, ja in seinem Überlegungsspielraum die Totalität menschlicher lebenspraktischer Erfahrung aufzunehmen. Ein so verstandener Marxismus wird die Kunst, in allen ihren Formen, in seinen begrifflichen Rahmen einbeziehen. Die Kraft, die ihn zu solcher Leistung fähig macht, ist die materialistische Dialektik, nicht allein als Vermögen der Kritik und Negation, sondern zugleich auch der Integration und Synthesis. Aus diesem Grund wurde der Begriff des integrativen Marxismus für den Titel eines Buchs gewählt, das einen so verstandenen Marxismus in einer Reihe unterschiedlicher Wissensfelder und differenter theoretischer Formen auszuarbeiten versucht. Der Anspruch des Verfassers ist dabei nicht, abgeschlossene und als sicher befundene Ergebnisse der Forschung vorzulegen, sondern ein Konzept theoretischen Wissens experimentell zu erkunden.

Mehr Infos

→  Inhalt und Leseprobe

Produktionsfaktor Kunst. Die Schriften von Thomas Metscher zu Kulturfragen zeigen, wie sich der Kapitalismus ideelle Werte aneignet und sie kommerziell ausschlachtet. Von Rudolph Bauer → Rubikon 15.06.2021

  • "Wenn ich sehe, wie mit Sahra Wagenknecht umgegangen wird, dann erfasst mich das nackte Grauen" Der Philosoph Thomas Metscher über den Marxismus als Philosophie, Teil 1. Von Reinhard Jellen → Telepolis 18.05.2019
  • "Man wird einem anderen Islam begegnen" Thomas Metscher über den Marxismus als Philosophie, Teil 2 Reinhard Jellen → Telepolis 19.05.2019

Unser Himmel ist irdisch. Eine Kunst, die sich nur auf die Kritik des Bestehenden konzentriert, verzichtet auf eine ihrer wesentlichen Qualitäten – Schönheit. Von Stefan Siegert → junge Welt 08.11.2018

Rezension von Rudolph Bauer → Ossietzky 09/2018

Integrativer Marxismus und das Denken einer neuen Kultur. Thomas Metscher – Ein theoretischer Entwurf → trend onlinezeitung 12/2014

Rezension von Dieter Kraft → trend onlinezeitung 03/2018

Interview: Thomas Metscher: Gedankengänge rund um den Marxismus → kommunisten.de 11.07.2016

Überlegungen zum Revolutionsbegriffkommunisten.de 07.11.2017

Buchprojekt/Werkstattfassung

Der Autor:

Thomas Metscher, geboren 1934 in Berlin, studierte Anglistik, Philosophie und Germanistik in Berlin (FU), München, Bristol und Heidelberg. Promotion über Sean O`Casey 1966. 1961 bis 1971 Dozent für neuere deutsche Literatur an der Queen`s University of Belfast, Irland. 1971 bis 1999 Professor für Literaturwissenschaft und Ästhetik an der Universität Bremen. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Theorie der Literatur, Ästhetik und Kulturtheorie. Gegenwärtige Forschungsgebiete: philosophische Grundlagen ästhetischer Theorie, Literaturanalyse, Theorie des Bewusstseins, Fundierungsprobleme marxistischer Theorie.

Das Konzept des Integrativen Marxismus nach Thomas Metscher

Zusammenfassung

Dieses Dokument synthetisiert die zentralen Thesen von Thomas Metscher zum Konzept eines „Integrativen Marxismus“, wie es in seiner Werkstattfassung „Integrativer Marxismus und das Denken einer neuen Kultur“ dargelegt wird. Metscher postuliert die Notwendigkeit eines zukunftsfähigen Marxismus, der weder als dogmatisch abgeschlossenes System noch als rein kritisch-reduktionistische Theorie verstanden werden darf. Stattdessen wird ein offenes, sich dynamisch entwickelndes theoretisches Modell entworfen, das auf philosophischer Grundlage eine umfassende Welterkenntnis anstrebt, um die Welt grundlegend zu verändern.

Die Kernpunkte des Integrativen Marxismus sind:

  1. Philosophische Grundlage: Der Marxismus ist eine philosophisch begründete „Philosophie der Praxis“. Ihr Ziel ist es, den „Gesamtzusammenhang“ der Wirklichkeit zu erfassen, um alle Verhältnisse umzuwerfen, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.
  2. Kategoriale Basis: Das Fundament des Neuen Materialismus bildet eine „kategoriale Trias“ aus gegenständlicher Tätigkeit, Geschichte und Dialektik. Diese drei Kategorien sind strukturell miteinander verbunden und beschreiben sowohl die Verfasstheit der Wirklichkeit als auch die Methode ihrer Erkenntnis.
  3. Methodologische Offenheit: Der Ansatz erkennt das „erkenntnistheoretische Relativitätsprinzip“ an, demzufolge Wissen historisch bedingt ist. Dies erfordert permanente Selbstkritik, die Bereitschaft zur Revision und die prinzipielle Anerkennung der „Unfertigkeit“ der Theorie, die sich mit der Wirklichkeit verändern muss.
  4. Epistemische Synthese: Der integrative Charakter manifestiert sich in der Fähigkeit, verschiedenste Wissensformen zu verarbeiten. Dazu gehören nicht nur die Ergebnisse der positiven Wissenschaften (unabhängig von ihrer Herkunft), sondern auch nicht-wissenschaftliche Formen wie Kunst, Alltagsbewusstsein, Mythos und Religion. Die Kunst wird als gleichrangige Partnerin der Wissenschaft bei der Welterschließung betrachtet.
  5. Dreidimensionale Ausrichtung: Der Marxismus agiert auf drei Zeitebenen: als historisches Erkennen (Erforschung der Vergangenheit), als Diagnostik der Gegenwart und als antizipatorisches Denken (Erkundung der Zukunft als „konkrete Utopie“).
  6. Utopisches Denken: Im Gegensatz zur traditionellen Ablehnung der Utopie wird das Denken des „geschichtlich Möglichen“ – die „konkrete Utopie“ – als notwendiger Bestandteil eines zukunftsfähigen Marxismus rehabilitiert. Es geht darum, die Konturen einer neuen, humanen Kultur auf der Basis einer wissenschaftlichen Analyse der realen Möglichkeiten zu entwerfen.

1. Die Notwendigkeit eines zukunftsfähigen Marxismus

1.1. Die Wiederkehr des Marxschen Denkens

Metscher konstatiert eine Wiederkehr des totgesagten Marxismus, symbolisiert durch „Marx‘ Gespenst“. Diese Rückkehr ist nicht akademischer Natur, sondern in den ungelösten globalen Krisen des Kapitalismus begründet. Die fortwährende Ausbeutung, Verelendung ganzer Kontinente, Kriege, Entfremdung und die ökologische Krise zeigen, dass die herrschende Gesellschaftsordnung keine menschenwürdige Zukunft für die Mehrheit der Weltbevölkerung bietet.

„Der Gegensatz zwischen Elendsquartieren und Palästen hat nicht ab-, er hat zugenommen.“

Die weltgeschichtliche Alternative, formuliert von Rosa Luxemburg, bleibt bestehen: „Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei“. Der Marxismus wird als die konsequenteste theoretische Gestalt dieser Alternative begriffen.

1.2. Anforderungen an die Zukunftsfähigkeit

Die bloße Notwendigkeit des Marxismus garantiert jedoch nicht seine Wirksamkeit. Metscher stellt daher die Frage nach seiner „Zukunftsfähigkeit“. Ein zukunftsfähiger Marxismus muss seinem doppelten Anspruch genügen: die Welt zu interpretieren und sie zu verändern.

Dies erfordert die Überwindung zweier theoretischer Extreme:

  • Der Dogmatismus: Ein fertiges, geschlossenes System, das zu intellektueller Sterilität führt.
  • Der Reduktionismus/Revisionismus: Eine rein kritische Theorie, die positives Wissen ablehnt und zentrale Kategorien (wie Dialektik, Totalität, Ontologie) aufgibt.

Ein zukunftsfähiger Marxismus muss stattdessen auf dem gemeinsamen theoretischen Kern aufbauen, der in den verschiedenen marxistischen Positionen des 20. Jahrhunderts (von Lenin über Gramsci bis Holz) vorhanden ist, und gleichzeitig die produktiven Differenzen in einer „Kultur des innermarxistischen Disputs“ weiterentwickeln.

2. Das Konzept des Integrativen Marxismus: Eine theoretische Exposition

Der von Metscher vorgeschlagene „Integrative Marxismus“ ist keine neue Erfindung, sondern die Betonung eines Moments, das dem marxschen Denken von Anfang an innewohnt: die auf der materialistischen Dialektik beruhende Fähigkeit zur Synthese.

2.1. Philosophische Grundlage und Ziel

Der Marxismus wird als eine philosophisch begründete Form kohärenten Wissens definiert, die auf die Erkenntnis eines perspektivischen Ganzen – des „Gesamtzusammenhangs“ – zielt. Dieser Gesamtzusammenhang ist jedoch nicht metaphysisch-statisch, sondern radikal historisch als Prozess-Kontinuum zu verstehen. Das ultimative Ziel ist die Weltveränderung.

„Das Ganze einer Welt, in Gedanken gefasst, um das Ganze einer Welt zu verändern.“

2.2. Methodologische Prinzipien

PrinzipBeschreibung
WissenschaftlichkeitDer Neue Materialismus versteht sich als Wissenschaft, die auf dem Boden der positiven Wissenschaften steht. Er ist konsequent anti-ideologisch und grenzt sich von quasi-religiösen Formen des Kommunismus ab.
RelativitätsprinzipErkenntnis ist historisch bedingt und relativ. Absolute Wahrheit existiert nur als regulatives Ideal. Daraus folgt die Notwendigkeit permanenter kritischer Reflexion, Revision und der Hypothese des möglichen Irrtums („Wissen, gewonnen aus Zweifel“).
Dialektische KritikKritik ist eine zentrale Kategorie und meint dreierlei: 1. Selbstkritik des wissenschaftlichen Denkens, 2. Kritik gesellschaftlicher Bewusstseinsformen (Ideologie) und 3. Kritik der materiellen Verhältnisse im Hinblick auf ihre Aufhebung.
Dialektischer IdeologiebegriffIdeologie ist nicht bloß falsches Bewusstsein, sondern jede Form sozial wirksamen Bewusstseins, die widersprüchliche Momente von Wahrheit und Falschheit enthält („verkehrte Wahrheit“). Ideologiekritik ist daher zugleich Dekonstruktion und Rekonstruktion von Wahrheitsmomenten.

2.3. Die dynamische und offene Natur der Theorie

  • Theorieform sich verändernder Wirklichkeit: Da die Wirklichkeit sich ständig verändert, kann die marxistische Theorie niemals „fertig“ sein. Sie ist prinzipiell unfertig und muss sich selbst permanent weiterentwickeln, um adäquat zu bleiben.
  • Dreidimensionalität des Erkennens: Marxistisches Denken ist strukturell dreidimensional ausgerichtet:
    1. Historisches Erkennen: Erforschung der Vergangenheit.
    2. Diagnostik der Gegenwart: Analyse der aktuellen Zeit.
    3. Antizipatorisches Denken: Erkundung der Zukunft als historisch Mögliches.
  • Revolutionäre Praxis: Gemäß der dritten Feuerbach-These ist revolutionäre Praxis das Zusammenfallen von „Ändern der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung“. Dies schließt jede Form des Objektivismus aus und betont, dass auch der Verändernde (der „Erzieher“) selbst in den Prozess einbezogen ist und sich verändern muss.

2.4. Epistemische und anthropologische Erweiterung

Der integrative Kern des Konzepts zeigt sich in der Forderung nach einer umfassenden Ausarbeitung und Erweiterung der Theorie:

  • Synthesis von Wissensformen: Der Marxismus muss die Ergebnisse der positiven Wissenschaften vorurteilsfrei verarbeiten, unabhängig von deren ideologischem Kontext. Darüber hinaus muss er auch nicht-wissenschaftliche Wissensformen integrieren, darunter Alltagsbewusstsein, Sprache, Mythos, Religion und insbesondere die Kunst. Die Kunst wird als gleichrangige Partnerin der Wissenschaft bei der epistemischen Erschließung der Welt verstanden.
  • Anthropologische Erweiterung: Der Marxismus muss sich existenziellen Grunderfahrungen des menschlichen Lebens stellen (Geburt, Liebe, Leid, Tod, Sinnfrage), die er nicht der Religion oder irrationalen Ideologien überlassen darf. Als Antwort wird die Schaffung von „Mythen der Vernunft“ vorgeschlagen – ästhetische Formen, in denen Sinnlichkeit und Begriff zusammentreten, um diese existenziellen Fragen auf einer profanen, rationalen Basis zu bearbeiten.

3. Die kategoriale Trias des Neuen Materialismus

Die philosophische Theorie des Neuen Materialismus basiert auf drei miteinander verbundenen Kernkategorien.

3.1. Gegenständliche Tätigkeit

Dies ist die erste und systematische Basiskategorie. Sie bezeichnet jede Form sinnlich-menschlicher Praxis in einer gegenständlichen Welt, wobei die Arbeit als Modell dient.

  • Sie ist der Ausgangspunkt des Neuen Materialismus und überwindet die traditionelle Metaphysik, indem sie bei einem innerweltlichen Tätigkeitsverhältnis ansetzt und nicht bei einer abstrakten Seinsordnung.
  • Sie ist synthetischen Charakters, da sie den materiellen Gegenstand des alten Materialismus mit dem Aspekt der tätigen Weltproduktion aus dem Idealismus verbindet.
  • Sie impliziert einen Raum „determinierter Freiheit“, da menschliches Handeln immer im Horizont konkreter Möglichkeiten stattfindet.

3.2. Geschichte

Gegenständliche Tätigkeit ist immer zeitlich und räumlich, also inhärent geschichtlich.

  • Die Welt ist geschichtlich: Die Gegenstände und Verhältnisse der Welt sind „werdend-gewordene“. Die menschliche Welt ist ein Produkt menschlichen Handelns und daher veränderbar.
  • Kritik der Geschichtsteleologie: Geschichte ist kein teleologischer Prozess, sondern das Resultat menschlichen Handelns innerhalb eines Determinationsgefüges, das einen Spielraum von Möglichkeiten eröffnet. Zivilisatorischer Fortschritt ist nicht linear oder gesichert, sondern stets durch die Möglichkeit des Rückfalls in die Barbarei bedroht.

3.3. Dialektik

Die Dialektik hat strukturelle Priorität, da sowohl die gegenständliche Tätigkeit als auch die Geschichte selbst dialektisch verfasst sind.

  • Ontologischer und logischer Begriff: Dialektik ist zugleich die Struktur der Wirklichkeit und die Methode ihrer Erkenntnis. Als Methode ist sie ein Verfahren der genetischen Rekonstruktion, das scheinbar feste Verhältnisse „verflüssigt“ und somit auch ein Verfahren der Kritik ist.
  • Einheit von Negation und Synthese: Materialistische Dialektik ist im Kern synthetisches Denken, das auf den Gewinn positiven Wissens zielt. Kritik (Negation) ist ein notwendiges Moment dieses Prozesses.
  • Elemente der Dialektik (nach Lenin): Metscher rekurriert auf Lenins Hegel-Lektüre, um die Dialektik zu erläutern. Schlüsselmomente sind: die Betrachtung der Dinge in ihrer Entwicklung und ihren Beziehungen, das Herausarbeiten des inneren Widerspruchs, die Einheit von Analyse und Synthese, die Auffassung von Wirklichkeit als unendlicher Prozess und die Bewegung von der Erscheinung zum „tieferen Wesen“.

4. Die Wirklichkeit als Gesamtzusammenhang (GZ)

Das Denken des Gesamtzusammenhangs ist die eigentliche Aufgabe der theoretischen Philosophie im Marxismus. Es ist die Voraussetzung dafür, die Einheit von Theorie und Praxis zu fassen und die Weltveränderung praktisch umzusetzen. Der GZ ist keine empirisch gegebene, sondern eine durch Interpretation der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu konstruierende Totalität.

Metscher unterscheidet fünf kategoriale Stufen des Gesamtzusammenhangs:

StufeBeschreibung
1. Der Alltag als GZDer Alltag wird intuitiv als Zusammenhang erfahren, geordnet durch ein „Weltwissen“ oder eine „Jedermannsphilosophie“ (Gramsci), die sowohl experientielles Wissen als auch ideologische Formierungen enthält.
2. Der GZ einer GesellschaftDer Alltag verweist auf das Ganze einer konkreten Gesellschaft. Diese ist als strukturierter Zusammenhang (Basis/Überbau) und als Teil einer globalen Gesellschaftsformation (heute: Imperialismus) zu begreifen.
3. Der GZ des geschichtlichen ProzessesDie Gesellschaft ist Teil eines historischen Prozesses. Geschichte besitzt eine triadische Struktur aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Erst als geschichtliches Denken wird der GZ zu einem umfassenden Orientierungswissen.
4. Der ontologische GZDer GZ umfasst die Einheit von Natur und menschlicher Gesellschaft, wobei die menschliche Geschichte als Teil der Naturgeschichte verstanden wird. Dies begründet die fundamentale Diesseitigkeit des Marxismus.
5. Der metaphysische GZDie traditionelle metaphysische Frage nach dem Grund und Sinn des Seins wird nicht ignoriert, sondern in der Dialektik „aufgehoben“. Sinn wird nicht als gottgegeben, sondern als menschliche Setzung und kultureller Akt verstanden.

5. Utopie als Konstruktion des geschichtlich Möglichen

Entgegen der traditionellen Anti-Utopie-Haltung des Marxismus plädiert Metscher für die Notwendigkeit utopischen Denkens in der heutigen Zeit. Angesichts der tiefen Krise und der fehlenden politischen Orientierung sei es notwendig, das Ziel einer besseren Gesellschaft wieder sichtbar zu machen.

5.1. Konkrete Utopie als wissenschaftliches Moment

Das Utopische soll als Moment des Wissenschaftlichen im Marxismus verankert werden. Es geht nicht um abstrakte Träumereien, sondern um die Konstruktion des geschichtlich Möglichen auf Basis einer wissenschaftlichen Analyse der in der Wirklichkeit schlummernden Potenziale.

„Es geht nicht um eine Traumwelt unverbindlicher Ideale, es geht um die Konstruktion von Möglichem, und nichts anderes heißt konkrete Utopie.“

Die Grundlage dafür liegt in der triadischen Struktur der Geschichte: Die Zukunft ist als Möglichkeitsdimension Teil der geschichtlichen Wirklichkeit selbst. Antizipatorisches Denken ist somit ein integraler Bestandteil des Marxismus.

5.2. Entwurf einer neuen Kultur: Konkreta der Utopie

Die konkrete Utopie wird als das Denken einer neuen, sozialistischen Kultur entworfen. Folgende Elemente werden skizziert:

  • Ökonomische und ökologische Basis: Gesellschaftliches Eigentum, gesamtgesellschaftlich geplante Produktivkraftentwicklung, die nicht auf blindes Wachstum, sondern auf menschliche Bedürfnisse ausgerichtet ist. Dies schließt ein radikal verändertes, harmonisches Verhältnis zur Natur ein.
  • Eine Welt ohne Hunger und Krieg: Diese ältesten Menschheitsträume sind heute materiell möglich, ihre Verwirklichung erfordert jedoch die Überwindung der profitorientierten Wirtschaftsordnung.
  • Neue Bewusstseinsformen: Eine zukünftige Gesellschaft wird plurale, profane Bewusstseinsformen entwickeln, in denen das Ästhetische eine zentrale Rolle bei der Bearbeitung existenzieller Fragen und der Sinnstiftung übernimmt.
  • Das frei entwickelte Individuum: Der ethische Glutkern der neuen Kultur ist das „voll und frei entwickelte Individuum“, dessen Entfaltung das Grundprinzip der Gesellschaft ist.
  • Vollendung der Aufklärung: Die neue Kultur realisiert die in der bürgerlichen Gesellschaft unvollendeten Projekte der Aufklärung. Sie ist eine universale Rechtsgesellschaft, in der Menschenrechte, Demokratie, Freiheit und Gleichheit materiell verwirklicht sind. Sie bewahrt und erweitert die zivilisatorischen Errungenschaften, anstatt sie abzuschaffen.
Autoren

Erstellt: 22.11.2018 - 05:46  |  Geändert: 22.10.2025 - 13:57