DIE WELT, 06.01.2006


Unverstellter Blick


In Dresden, in Köln, am Mittelrhein: Warum die Sehnsucht nach schönen Aussichten so groß ist

 

 

Der Loreleyfelsen bei St. Goarshausen ist die Hauptattraktion des Mittelrheintales

Der Loreleyfelsen bei St. Goarshausen ist die Hauptattraktion des Mittelrheintales
(Foto: dpa)

 

von Holger Kreitling

Wenn man heute Postkarten aus den sechziger und siebziger Jahren in die Hand nimmt, erscheint der dort zu beobachtende Stolz auf moderne Bauwerke befremdlich. Gerne schiebt sich ein Haus ins Bild, wenn im Hintergrund schöne Natur zu sehen ist. Oder eine neue Brücke ziert die Ansicht vom Baudenkmal. Die deutsche Gesellschaft sonnte sich im Fortschritt, Beton wirkte wie ein Martini. Städte prunkten mit Architektur, die heute nur Kopfschütteln auslöst, weshalb diese Retrochic-Postkarten nunmehr in Kitschläden zu kaufen sind. Bildnisse aus der hohen Zeit des Camp.

Den Mentalitätswechsel muß man im Auge haben, um den überall entbrannten Streit um die Wahrung von Baudenkmälern zu verstehen. Interessanterweise geht es nie um die Zerstörung oder Beschädigung der Denkmäler, sondern immer um die Blicke und Sichtachsen. Beim Bau der Hochhäuser in der Nähe des Kölner Doms, bei der Waldschlößchenbrücke in Dresden, beim Streit um Windräder rund um die Wartburg in Eisenach. Nachdem die Unesco, die über all die Stätten des Weltkulturerbes wacht und wachen muß, in Potsdam Alarm geschlagen hat, wurde ein geplantes Einkaufszentrum, das die Sicht von Sanssouci aus behindert hätte, gestoppt. Die barocke Potsdamer Schlösserlandschaft prunkte einst mit rund 200 Blickachsen. Nur noch wenige sind erhalten.

Am Mittelrhein bei St. Goar wünschen sich Unternehmen und Landräte eine neue Brücke, weil es auf der Strecke von 130 Kilometern keine gibt. Aber der Blick auf die Kulturlandschaft des Mittelrheins wäre gestört. Es ist ein bißchen wie im Diktum des Epiktet: Nicht die Dinge beschädigen die Menschen, sondern die Ansichten.

Die Schauspielerin Catherine Zeta-Jones hat gerade ordentlich versnobt erklärt, ihr Hobby sei es, Aussichten zu sammeln. Deshalb kaufte sie sich Herrenhäuser, Fincas, Wohnungen sowie eine kleine Burg, um von dort ungestört nach draußen zu sehen. Diese Blicke sind der reine Luxus. Sie liegt mit ihrer Leidenschaft im Trend. Was die Unesco in Paris sonst tut, egal ob mit Roten Listen unterstützt oder nicht, ist der Bevölkerung eigentlich herzlich egal. Doch Hochhäuser vor dem Kölner Dom empören die Kulturnation, nicht bloß wegen der verbauten Dom-Ansicht, auch wegen der Hochhäuser.

Die Wahrung des unverstellten Blicks ist Ausdruck des gewandelten Stadtverständnisses. Was Städteplaner und Investoren vorlegen, wird heute enorm kritisch betrachtet, und man darf sicher sein, daß hysterienahe Kampagnen von empörten Bürgern in Gang gesetzt werden, die sich auf ein meist diffuses Stadt- oder Landschaftsempfinden berufen, das aus der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts stammt. Beim Blick auf den Rhein wirkt Heines "Loreley" stärker denn je. Der touristische Blick etwa von Japanern auf liebliche Städte wie Heidelberg wird gerne von Einheimischen belächelt. Aber in den letzten Jahren ist es gerade der touristische, von Bildung eher befreite Blick, den die Eventkultur auch hierzulande erfolgreich befördert.

Die schöne Aussicht wird zum Bollwerk, das gegen die bedenkenlosen Hasardeure der Ökonomie verteidigt wird. Und doch sitzen Gegner und Befürworter im gleichen Boot. Wenn vom "Canaletto-Blick" auf die Elbauen in Dresden die Rede ist, der durch ein "Brücken-Monstrum" zerstört würde, stellt sich bürgerliches Kulturempfinden gegen bürgerliche Wirtschaftsordnung. Die Zerrissenheit des wertkonservativen Lagers manifestiert sich deutlich. Nur der Aufstand gegen Windräder in der Landschaft, dieser ästhetische Herpes und die tatsächlich schlimmste Hinterlassenschaft von Rot-Grün, eint die bürgerliche Mitte; damit lassen sich im Namen der Schönheit gleich ideologische Grabenkriege gegen die Linke mitführen.

Im Kampf für den Blick kommt ein zunehmendes Unbehagen an sozialem und kulturellem Wandel zum Ausdruck. Aussichten sind visuelle Ruhepole in einem rasant sich verändernden Umfeld. Während die öffentliche Bild-Wahrnehmung sich ständig beschleunigt und mit Rasanz prunkt, in Fernsehen und im Kino, in der Werbung im Stadtbild, sind Aussichten unbeweglich und mit Tradition und Geschichte verhaftet. Der Rhein fließt gemächlich, und die Elbe auch. Um die Wartburg kreisen die schwarzen Vögel und sonst bitteschön gar nichts.

Die architektonische Blickachse als Augenwohl ist im Barock am exzessivsten eingesetzt worden. Aber gerade das Barock erfand auch das trompe-l'oeil, die Augentäuschung. Manche Ruine ist als Ruine erbaut worden, und am Ende der Blickachsen in barocken Parkanlagen steht häufig die Attrappe. Wer dahinter blickt, schaut auf lachhaft leere Kulisse. Die Sehnsucht nach unverstellten, bewahrten Ansichten ist grundiert vom Wunsch, daß die alte Zeit zurückkehrt, weil sie besser war. Die alte Bundesrepublik mit ihrem Sozialsystem und ihrer Sorglosigkeit aber gibt es nur mit Bausünden.

Artikel erschienen am Fr, 6. Januar 2006

© WELT.de 1995 - 2006


Quelle: http://www.welt.de/data/2006/01/06/827371.html

Startseite "ringpark-in-gefahr"

Home


© 2004 Buchladen Neuer Weg, Würzburg
– Bei uns können Sie Bücher online suchen und bestellen –
Stand: 08. November 2006
Bei Problemen oder Fehlern schicken Sie eine E-Mail an: webmaster@neuer-weg.com