Der Kosovo-Krieg markiert einen Wendepunkt in der
Friedenssicherungspraxis der Internationalen Gemeinschaft. Zum
ersten Mal hat die NATO einen Krieg geführt, dessen
völkerrechtliche Grundlage wenn nicht fehlte, so doch zumindest
angezweifelt werden muss. Der vorliegende Sammelband bemüht sich,
auf die Frage nach Fundament, Reichweite, Revisionsbedürftigkeit
und Zukunft tradierter Grundnormen des Völkerrechts und der
internationalen politischen Ethik eine differenzierte Antwort zu
geben. Mit Ausnahme des Aufsatzes von Reinhard Merkel selbst sind
alle Beiträge noch während der NATO-Intervention entstanden.
Auch wenn sich in der historischen Betrachtung einige Aspekte
verändern, so umfasst dieses kleine Buch in beispielhafter Weise
doch die Theorieansätze, auf die alle Diskussionen um eine
Renormativierung des Völkerrechts zurückgreifen werden.
In einem
ersten Aufsatz schildert Bruno Simma die völkerrechtlichen
Grundlagen der Gewaltandrohung in den zwischenstaatlichen
Beziehungen, um anschließend die konkrete Situation im Kosovo
nach diesen Kriterien zu untersuchen. Im Ergebnis kommt Simma zu
der klaren Aussage, dass "ob wir die in der Kosovokrise
mobilisierten Drohungen der NATO als eine Kapitel VII –
Ersatzmaßnahme, als "humanitäre Intervention" oder als
Androhung kollektiver Gegenmaßnahmen mit Waffengewalt betrachten
– jeder Versuch einer juristischen Rechtfertigung [...]
unbefriedigt bleiben [wird]". Doch habe die NATO in ihrem
Bestreben, sich in das System der kollektiven Sicherheit
einzubinden, nur eine dünne Linie von der
Völkerrechtskonformität getrennt. Dennoch müsse diese
Intervention eine klare Ausnahme bleiben, um das Friedensziel und
das damit verknüpfte Gewaltverbot in den internationalen
Beziehungen aufrecht zu erhalten.
Jürgen Habermas nimmt in seinem
Aufsatz Stellung zur rechtsphilosophischen Dimension des
Kosovo-Konflikts und kommt zu demselben Ergebnis. Überzeugend
stellt er dar, welche Ideen und Ideale hinter der Politik einer
Intervention zum Schutz der Menschenrechte aber auch hinter den
völkerrechtlichen Grundsätzen stehen. Dabei kämpfe das Prinzip
der völkerrechtlichen Souveränität und der kodifizierten Normen
als Souveränitätsverzicht gegen den Wunsch eines
weltbürgerlichen Universalismus. Ein Dilemma ergebe sich nun vor
allem deshalb, weil eine solche Weltinnenpolitik noch nicht
instrumentalisiert sei, wenn auch Habermas diese für
wünschenswert hält. Indem die einzelnen NATO-Staaten, allen
voran Amerika, über diesen grundlegenden Umstand hinweggesehen
hätten, würden sich Verantwortlichkeiten und
Verhältnismäßigkeiten verschieben. Insofern sei besondere
Vorsicht geboten und dürfte die nicht legitimierte Intervention
der NATO nicht zum Regelfall werden.
Reinhard Merkel greift die
Rechtfertigungsversuche der NATO entschieden an. Dabei stellt er
eindringlich dar, dass die verheerende menschenrechtliche
Situation der Kosovo-Albaner zwar ausreichend Anlass gegeben
hätte, auch eine humanitäre Intervention der NATO zu
rechtfertigen, aber die Art und Weise jenseits aller
völkerrechtlicher Erfordernisse stehe. Das "Ob" der
Intervention sei mit einem Nothilferecht zu begründen, da die
internationale Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen
versagt habe. Dagegen könne das "Wie" der Intervention
keiner Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten. Schon gegen
das Nothilfeprinzip sei verstoßen worden, da nicht nur andere
Menschen verletzt wurden, sondern auch der Verursacher selbst
nicht direkter Adressat des Angriffs war. Merkel warnt vor einer
"macht- und kriegspolitischen Bedenkenlosigkeit", die
das normative und politische Konzept der internationalen
Beziehungen auf den Kopf zu stellen drohe.
Auch Dieter Senghaas
bezieht sich auf das Nothilferecht. Ausgehend von einer klaren
juristischen Abgrenzung lenkt er ebenfalls das Augenmerk auf die
geforderte Verhältnismäßigkeit des Notwehrangriffs zur
vorangegangenen Gewalt. Diesem Prinzip Rechnung zu tragen sei aber
nur möglich, wenn eine fundierte und verifizierte Analyse des
jeweiligen Konfliktfalls vorläge, was für Senghaas im konkreten
Fall völlig vernachlässigt wurde. Erst unter dieser Bedingung
könne er sich eine Entwicklung vom Gewaltverbot zum Gewaltmonopol
in der internationalen Gemeinschaft vorstellen.
"Der gerechte
Krieg ist der legale Krieg" lauten die Schlussworte des
Aufsatzes von Ulrich K. Preuß, der treffend darstellt, warum auch
schon die Notwendigkeit einer humanitären Intervention der NATO
fraglich ist. Zwar wendet er ein, dass die systematische
Verletzung der Menschenrechte einer Bevölkerung eine
Friedensbedrohung für die gesamte Staatengemeinschaft darstelle,
doch gelte es, dieser Gefahr im Rahmen des Systems der kollektiven
Sicherheit zu begegnen. Dabei verwirft Preuß die These, dass die
NATO gleichsam treuhänderisch für eine handlungsunfähige UNO
eingegriffen habe. Denn es seien schon nicht einmal alle Wege
versucht worden, im Rahmen dieses Systems die Intervention zu
beschließen. So verurteilt Preuß die NATO-Intervention, die
"den Versuch [darstelle], unter Berufung auf die Legitimität
einer universellen Moral die Legalität der bestehenden
völkerrechtlichen Ordnung zu relativieren".
Georg Meggle
nimmt den Leser mit auf eine Reise durch die Fragen der Moral.
Dabei gelingt es ihm vorzuführen, wie aus dem Recht sich zu
wehren und anderen Hilfe zu leisten, das Recht der humanitären
Intervention geformt wird, und wie dabei langsam hinter den guten
und moralischen Gründen alle Erfordernisse zur legitimen
Durchführung verschwimmen. Der mit dem Leser erarbeitete Katalog
der notwendigen Verhältnismäßigkeit einer humanitären
Intervention wird schließlich vom Autor selbst am Beispiel des
Kosovo-Konflikts durchgespielt und so kommt Meggle zu dem fast
schon mathematische einleuchtenden Schluss, dass hier ganz
wesentliche Punkte völlig missachtet wurden.
Knut Ipsen vertritt
eine Gegenposition und fragt, ob der Verstoß gegen das
Gewaltverbot durch die NATO-Intervention nicht nach den
Grundsätzen der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit
ausnahmsweise gerechtfertigt sei. Da Massenvertreibungen und
Massentötungen eine Verletzung von Frieden, Sicherheit und
Menschenrechten darstellen, seien Ziel und Zweck der UN-Charta,
gefährdet. Insofern "dient nach dem
Proportionalitätsprinzip angedrohte und angewendete Gewalt
geradezu der Verwirklichung der Ziele der Vereinten Nationen"
und der völkerrechtliche Schutz der Souveränität müsse
zurücktreten. Weiter gebiete der Menschen- und
Minderheitenschutz, dass Sanktionen auch ausgeführt würden.
Sollte die eigene Rechtsordnung ein geschütztes Gut nur bewahren
können, indem eine andere Rechtsvorschrift verletzt werde, so sei
die Berufung auf den übergesetzlichen Notstand zur Rechtfertigung
oder zumindest Entschuldigung möglich. Schließlich könne auf
die massivsten Rechtsverletzungen im Kosovo in Form einer
Repressalie geantwortet werden, die angesichts des Ausmaßes der
Gewalt auch die militärische Intervention nicht ausschließe. Im
Ergebnis gebe es damit mehrere Möglichkeiten, die
NATO-Intervention als völkerrechtskonform zu bezeichnen.
Otfried
Höffe ergänzt die Aufsatzsammlung mit dem Aspekt, dass das
serbische Volk durch die internationale Gemeinschaft in seiner
Rolle als Täter oder Mitläufer hätte aufgeklärt werden
müssen. Genauso wie Defizite in der Krisenprävention bestanden,
sei es auch bei dem Versuch geblieben, eine Zivilgesellschaft
aufzubauen. Die Konfliktbewältigung der UNO wird dabei insoweit
kritisiert, als eine unparteiische Haltung der Großmächten
gerade in kritischen Fragen wie der der Menschenrechte, nicht
möglich sei. Dennoch könne eine humanitäre Intervention
außerhalb des UN-Systems nur in einem sehr viel engeren Rahmen
durchgeführt werden.
Zu den Möglichkeiten und Grenzen der
humanitären Intervention nimmt im Anschluss auch Wolfgang
Kersting Stellung. Dabei deckt er auf, dass der Interventionismus
nicht strikt abgelehnt werden könne, im Gegenteil würden derart
umfangreiche Menschenrechtsverletzungen wie im Kosovo
grundsätzlich eine Gegenreaktion fordern. In der Theorie müsse
gefordert werden, dass nicht nur eine iusta causa der Intervention
bestehe, sondern die Zielvorgaben auch erreicht werden könnten.
In diesem Dilemma erscheine eine militärische Intervention
praktisch kaum noch durchführbar.
Ulrich Beck beschließt den
Sammelband mit einer Betrachtung der Tendenz eines postnationalen
Krieges. Der Tenor laute: "Menschenrecht bricht Völkerrecht.
Die Folgen sind revolutionär: die die bisherige Ordnung tragenden
Unterscheidungen zwischen Krieg und Frieden, Innen- und
Außenpolitik brechen zusammen". Die neuartige Politik wird
beschrieben als "militärischer Humanismus" einer
globalen Zivilgesellschaft, die ihren Pazifismus auch mit Gewalt
durchsetze und in einer Mischform humanitärer Selbstlosigkeit und
imperialer Machtlogik auftrete. Diese Entwicklung sei äußerst
gefährlich, auch wenn sie vordergründig innerhalb Europas identitätsstiftend wirke.
(Quelle:
Politik-Buch.de) |