Andreas Ernst: Kosovo – die Geschichte von ihrem Ende her.
Nationalistische Mythen und reale Entscheidungen.


Rezension des Buchtitels von Wolfgang Petritsch/Karl Kaser/Robert Pichler: Kosovo, Kosova. Mythen
, Daten, Fakten.
Klagenfurt: Wieser-Verlag 1999. 363, XLIII S. 25,80 Euro. ISBN: 3-85129-304-5 (mehr Infos / bestellen).

Aus: Neue Zürcher Zeitung, 1999.

Die Darstellung der Geschichte nicht als Prozess mit prinzipiell offener Zukunft, sondern als Weg der nationalen Selbstverwirklichung ist das Geschäft der Nationalgeschichte. Es liegt kaum in der Absicht der Autoren: Aber "Kosovo – Kosova" erzählt die Geschichte dieses kleinen und blutigen Flecks Erde auf genau diese Weise. Dies gilt zumindest für die beiden ersten Teile des Buches, welche die Jahre von 1285 bis 1997 umfassen. Sie erscheinen als Vorgeschichte jener letzten großen Krise von 1999, die Kosovo eine von Serbien unabhängige Existenz brachte.

Im vormodernen Osmanischen Reich spielten die ethnolinguistischen Differenzen in Wahrheit keine wichtige Rolle. Ständische und religiöse Zugehörigkeiten waren entscheidend, was dazu führte, dass Albaner und Serben (etwa als Kleinbauern) im gleichen Lager gegen die osmanischen Großgrundbesitzer stehen konnten. Natürlich weiß das der Verfasser, Karl Kaser, als ausgewiesener Balkanexperte. In der gewählten Darstellungsform eines Patchworks aus historischen Fakten und nationalgeschichtlichen Mythen verschleiern aber die Mythen die Fakten. Wenn er die Schlacht auf dem Amselfeld durch die Brille der serbischen Nationallegende des 19. Jahrhunderts erzählt, erfahren wir etwas über serbisches "nation building", aber nichts über die osmanische Expansion. Denn dafür spielte das Ereignis vom 28. Juni 1389 keine entscheidende Rolle.

Jugoslawische Integrationsversuche

Im zweiten Teil, vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, lehnt sich Robert Pichler stark an das Standardwerk von Noel Malcolm an. Er übernimmt dessen Neigung zu Kosovo, aber nicht dessen akribische Genauigkeit in Darstellung und Belegen, die es erlauben, auch gegen den Strich zu lesen. So bleiben das großalbanische Experiment von Mussolinis Gnaden (Vereinigung Albaniens, Kosovos und albanischer Siedlungsgebiete in Montenegro und Mazedonien), die Kollaboration mit Hitler-Deutschland (SS-Division Skanderbeg) und die hochinteressante Phase nach dem Krieg, in der eine Balkanföderation zwischen Jugoslawien, Albanien und Bulgarien möglich schien, konturlos oder werden durch vorangehende serbische Unterdrückung erklärt. Die Auswahl der Dokumente dient offenkundig der unausgesprochenen These, die Verfolgung und Vertreibung der Kosovo-Albaner sei gleichermaßen die Politik des königlichen, des titoistischen und des «neuen» Jugoslawien unter Milosevic gewesen. Die These trifft zumindest für das titoistische Jugoslawien nicht zu. Die verfassungsrechtlichen, politischen und ökonomischen Versuche, Kosovo in den Staatsverband zu integrieren, waren keineswegs von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Es ging darum, in diesem rückständigen Agrargebiet, das als Lieferanten billiger Rohstoffe diente, eine nachholende Entwicklung in Gang zu setzen. Das Scheitern ist nicht auf kolonialistische Ausplünderung, sondern auf das Versagen des sozialistischen Modells der "ökonomischen Selbstverwaltung" zurückzuführen.

Die sozialen Spannungen wurden ethnisch aufgeladen, wobei serbischer und albanischer Nationalismus eine wesentliche Rolle spielten, um den interethnischen Gedanken des "Jugoslawismus" zu diskreditieren. So führte die verstärkte Autonomisierung der Provinz, verbrieft in der Verfassung von 1974, nicht zum erhofften Integrationsschub dank Föderalisierung, sondern zu einer Ethnisierung der Politik. Sie schaukelte sich in einer Sequenz von Konflikten bis zur Ausbildung einer albanischen Parallelstruktur als "Staat im Staat" hoch. Von da an suchten die albanischen Führer Veränderungen nicht mehr innerhalb Jugoslawiens, sondern durch die Internationalisierung des Konflikts zu erreichen. Sie wurden dabei faktisch von serbischen Politikern vom Schlage eines Milosevic unterstützt. Die gewählte Perspektive dieser ersten beiden Teile, welche die Dialektik zwischen dem serbischen und dem albanischen Nationalismus verkennt und eindeutig zwischen einer "Täter-" und einer "Opferethnie" unterscheidet, ist wissenschaftlich unergiebig – politisch ist sie katastrophal.

Kein internationaler Druck auf die UCK

Dies wird im dritten Teil sichtbar, der von Wolfgang Petritsch in Zusammenarbeit mit Robert Pichler verfasst wurde. Petritsch war vom Oktober 1998 bis zum Juli 1999 Sonderbeauftragter der EU für Kosovo. Er schreibt als Beteiligter und hat den weitaus informativsten und interessantesten Teil des Buches verfasst. Für ihn steht fest, dass das Scheitern der Verhandlungen in Rambouillet der jugoslawischen Seite anzulasten ist. Ebenso glaubt er mit dem Hinweis, dass im Dayton-Vertrag Ähnliches verlangt worden sei, die Kritik am berühmt gewordenen Annex B aufzufangen, der den Zugang der Nato auf das gesamte jugoslawische Territorium regelt. Wer die Chronik und den im Wortlaut abgedruckten Vertrag indessen genau liest, kann zum Schluss kommen, dass weder das Scheitern einer friedlichen Lösung vorbestimmt war noch die Schuld daran sich so eindeutig zuweisen lässt.

Ausgangslage ist die 1997 in Gang gekommene Gewaltspirale in Kosovo, angetrieben von der Befreiungsarmee (UCK) wie von serbischen Sicherheitskräften. Heimtückische Anschläge und brutale, ziellose Vergeltung führten zur Einschaltung der Kontaktgruppe (USA, Russland, Deutschland, Großbritannien, Frankreich), die im März 1998 den Rückzug der Sicherheitskräfte und sofortige Verhandlungen forderte. Nach UCK-Vorstößen und Gegenschlägen der Serben im Juni warnte die Nato erstmals vor Luftangriffen. Mitte Oktober schloss der US-Sonderbeauftragte Holbrooke ein Abkommen mit Milosevic, in dem eine 2000köpfige OSZE-Beobachtermission und unbewaffnete Nato-Überflüge vereinbart wurden. Man versprach, eine politische Lösung zu suchen und dabei die territoriale Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien zu respektieren. Da es nicht gelang, die UCK in dieses Abkommen einzubinden, ging die militärische Konfrontation weiter. Hätten statt dessen Direktverhandlungen zwischen Milosevic und dem Albanerführer Rugova stattgefunden (es gab Ansätze dazu) und hätte dieser die UCK in sein Lager bringen können, wäre eine nachhaltige Beruhigung durchaus möglich gewesen. Das sagt Petritsch nicht explizit, hingegen stellt er fest, dass der Westen über keine direkten Druckmittel gegen die UCK verfügte. Man kann die einseitige Bombardierungsdrohung gegen Milosevic durchaus als Anreiz für die Albaner zur militärischen Option betrachten.

Milosevic in der Enge

Ein serbisches Massaker an albanischen Zivilisten in Racak im Januar 1999 wurde zum Fanal für die verstärkte Kriegsdrohung der Nato und den Rambouillet-Prozess. Nach mehr als zwei Wochen intensiver Pendeldiplomatie zwischen den Stockwerken von Schloss Rambouillet schien alles offen. Die Albaner wehrten sich gegen die Entwaffnung der UCK, und die Option der Eigenstaatlichkeit war ihnen zu vage. Umgekehrt lehnten die Jugoslawen die Implementierung des Abkommens durch Nato-Truppen ab, und der Verbleib von Kosovo im Staat schien unsicher. Man werde Jugoslawien zur Annahme des Vertrags zwingen, hieß es nun aus den USA, und fast die gesamte Medienöffentlichkeit war sich einig: die Verantwortung für das Flüchtlingselend trugen allein die Serben. Diese Front verstärkte die serbische Intransigenz, was umgekehrt den Albanern die Unterschrift leichter machte. Denn damit hatten sie den Westen voll und ganz zum Verbündeten. Am 19. März wurden die Verhandlungen abgebrochen, gleichzeitig die OSZE-Beobachter zurückgezogen, und am 24. März begannen die Bombardierungen. Das Morden und die Vertreibungen strebten ihrem Höhepunkt zu.

Zeitgenössische Berichte unterscheiden sich von Ex-post-Darstellungen durch Mehr-Deutigkeit. Eines aber zeigt Petritschs Chronik klar: Kein hegelianischer Zwang der Geschichte war hier am Werk.

© 1999 Buchladen Neuer Weg, Würzburg
– Bei uns können Sie Bücher online suchen und bestellen –

Stand: 28. Dezember 2006
Bei Problemen oder Fehlern schicken Sie eine eMail an: webmaster@neuer-weg.com