Baruch Kimmerling kritisiert schonungslos und klar Israels Politik gegenüber den Palästinensern
– und sieht das Land auf dem
"Weg zum Faschismus".
"Unter der Führung von Ariel Scharon wurde Israel zu einer zerstörerischen Kraft, nicht nur für die Umgebung, sondern auch sich
selbst gegenüber, denn es kennt nur noch ein innen- wie außenpolitisches
Ziel: den 'Politizid' am Volk Palästinas." Das ist die zentrale
These des aufrüttelnden Buches von Baruch Kimmerling, Professor für Soziologie
an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Kein Wunder also, dass Kimmerling gleich in der Einführung gegenüber möglichen Kritikern
betont, er sei israelischer Patriot und habe dieses Buch "voller
Schmerz und Trauer verfasst. Es ist keineswegs mein persönliches Ziel, aus
'jüdischem Selbsthass Israel zu diffamieren'", wie die meisten
seiner politischen und ideologischen Gegner behaupteten. Im Gegenteil: Mit
diesem Buch wolle er einen weiteren Versuch unternehmen, "einem gütigen
und humanistischen Volk die Augen zu öffnen, das die wahren Gefahren für
Israel bis heute nicht erkannt hat". Auf gut 200 Seiten unterzieht Kimmerling die israelische Politik einer sehr kritischen, aber überaus
realistischen Analyse.
Immer wieder greift er darin Ariel Scharon an. Er setze eine Politik des "Politizids" fort, deren Ziel es sei, "das Ende der
Existenz des palästinensischen Volkes als soziale, politische und wirtschaftliche
Größe" herbeizuführen. Die Politik habe 1948 mit der Vertreibung
der Palästinenser im Rahmen der Staatsgründung begonnen, sei mit dem Massaker von Sabra und Schatila 1982 im Libanon fortgesetzt worden und
seit der Regierungsübernahme Scharons in ihr finales Stadium eingetreten. Dessen Politik werde das Wesen der israelischen
Gesellschaft zerstören und die moralische Basis des jüdischen Staates im
Nahen Osten untergraben. Das Ergebnis des Scharonismus sei ein doppelter
Politizid: das Ende der Palästinenser, aber langfristig auch das Ende der jüdischen Gemeinschaft.
Kimmerling sieht Israel sogar auf dem "Weg zum Faschismus", da
man alles, was anders sei, als existenzielle Bedrohung Israels und jedes einzelnen Israeli begreife. Selbst die "ethnische Säuberung"
als legitimer Lösungsansatz, um das gegenüber den Palästinensern geringere
Bevölkerungswachstum der Israelis auszugleichen, sei zu einem "ausdrücklich anerkannten Bestandteil des alltäglichen politischen
Diskurses in Israel geworden". Dagegen müssten sich die Israelis
durch zivilen Ungehorsam wehren.
Für Kimmerling ist Israel "eine militärische, wirtschaftliche, und technologische Supermacht". Israel wurde "auf den Ruinen einer
anderen Kultur aufgebaut, die dem Politizid und einer teilweisen ethnischen
Säuberung zum Opfer fiel, auch wenn es dem neuen Staat Israel nicht gelang, die rivalisierende Kultur der ,Eingeborenen' auszulöschen".
Anders als die Staaten Afrikas "konnten sich die Palästinenser und
die arabischen Staaten ihrer Kolonialherren nicht entledigen. […] Im Laufe
der Zeit wurde dieser Zustand institutionalisiert, und Israel wurde von einer echten Demokratie zu einer Herrenvolk-Demokratie." Ursprünglich
wurde der Begriff für Südafrika geprägt, da dort Gesetze galten, die nicht von allen in Anspruch genommen werden konnten. Die israelischen
Gesetze seien zu Gesetzen eines Herrenvolkes geworden. Das habe ein "zweischneidiges Rechtssystem […] und eine Doppelmoral
geschaffen". Scharons Ideologie sei Ausdruck einer Krise, die sich seit dem Beginn
der Besatzung aufgebaut habe. "Die Kolonisierung der Westbank und des
Gaza-Streifens durch jüdische Siedler führte den israelischen Staat in eine Sackgasse."
Der Autor lässt nochmals Scharons Brutalität und Rücksichtslosigkeit, aber auch seine Verschlagenheit und politische Klugheit für den Leser
aufscheinen. In der jetzt gebildeten Regierung agierten einige Minister, die offen für einen "Transfer" der
Palästinenser oder für
"ethnische Säuberung" plädierten. "Die eskalierende rassistische
Demagogie gegen die palästinensischen Einwohner Israels weist auf die Dimension der
Verbrechen hin, die vielleicht bereits geplant oder in Erwägung gezogen werden, als warte man nur auf den ,richtigen Moment', um sie
umzusetzen."
Auch was Kimmerling zur Entwicklung des Landes schreibt, hebt sich vom Mythos der offiziellen Heldenhistoriografie Israels deutlich ab. Seine
Ausführungen vermitteln ein schonungsloses Israel-Bild, das gerade manche deutsche Leser als störend empfinden werden. Auch wenn einige
Probleme überzeichnet sind, die Analyse überzeugt weitgehend. Zudem lässt Kimmerling es nicht bei Kritik bewenden, sondern sieht die
Möglichkeit, dass Israelis und Palästinser "nicht nur aufhören,
Feinde zu sein, sondern auch feststellen, dass ihre gemeinsamen Interessen sie
zu Verbündeten machen". Sein Buch gehört zu den wichtigsten Publikationen über den Nahostkonflikt, die in Deutschland
erschienen sind.
Baruch Kimmerling: "Politizid. Ariel Sharons Krieg gegen das palästinensische Volk", a. d. Englischen von Dirk Oetzmann u. Horst
M. Langer. München: Diederichs-Verlag 2003. 244 Seiten. 19,95 Euro. ISBN:
3-7205-2375-6.
(Quelle:
Die Tageszeitung, Berlin)
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