Das Innenleben eines Gründervaters unserer Republik: Die Tagebücher Rudi
Dutschkes sind ein berührendes Dokument. Sie sind das Arbeitsjournal eines unermüdlich lesenden Intellektuellen.
Rudi erweist sich zudem als Genie der Freundschaft.
Aus einem psychoanalytischen Blickwinkel lässt sich die antiautoritäre
Studentenbewegung als Familienroman beschreiben, in dem es um den Ersatz
realer durch fantasierte Väter und Großväter ging. Fast alle Väter und
Großväter waren in den Sechzigerjahren als Identifikationsgestalten
unbrauchbar geworden, weil so viele von ihnen Nazis gewesen waren. So
ging eine Generation auf die Suche nach linken Vorbildern und
antifaschistischen Ersatzeltern, fantasierte und erträumte sich "den
Ersatz beider Eltern oder nur des Vaters durch großartigere Personen",
wie es Sigmund Freud in seinem so kurzen wie folgenreichen Aufsatz "Der
Familienroman der Neurotiker" von 1907 beschrieb. Die antiautoritären
Studenten fanden die "großartigeren Personen" in der intellektuellen
deutsch-jüdischen Tradition, bei Freud und Marx; vor allem und mit der
intensivsten emotionalen Temperierung in der Zuwendung zu
deutsch-jüdischen Dissidenten der Zwanziger- und Dreißigerjahre, bei
Bloch, Benjamin, Adorno, Horkheimer, Marcuse, Reich und Luxemburg.
Es ist deshalb kein Zufall, dass Rudi Dutschke - die charismatischste
und sympathischste Führergestalt der von diesem Familienroman bewegten
Studenten - vor allem durch die kindlichen Züge in seiner medialen
Selbstdarstellung und autobiografischen Selbststilisierung gewirkt hat
und heute noch wirkt. Der bubenhafte Vorname; die rebellenhaft
herausgewachsene Konfirmandenfrisur; der Ringelpullover. Man muss in der
nun erschienenen, von Gretchen Dutschke in dankenswerter
Selbstverleugnung fast ungekürzt herausgegebenen, instruktiv mit Fotos
illustrierten Ausgabe von Rudi Dutschkes Tagebüchern und
autobiografischen Aufzeichnungen noch einmal die Bilder betrachten, um
zu wissen, auf welche Weise, aber auch in welchen emotionalen Tiefen
dieser Mann seine Generation gerührt hat: das Kinderglück im
Gesicht des Studentenführers, wie er auf dem legendären Vietnamkongress im Februar
1968 neben seinem Freund Gaston Salvatore (unglaublich gut aussehende
junge Männer der eine wie der andere) lachend die Fäuste hochhebt, als
habe die E-Jugend des FC Luckenwalde gerade ein Tor geschossen. Das Foto
des noch nicht Vierzigjährigen, schon dem Tod geweihten
Grünen-Politikers, der auf einer Versammlung zu einer mütterlich dicken
Frau mit dem Gesichtsausdruck eines Kindes aufsieht, das gerade "Mama,
kann ich noch ein Nutellabrot bekommen?" gesagt hat. "Sie
(Gretchen, S.W.) freut sich, dass ich mich endlich gebadet habe. Ich freue mich, dass
sie sich gefreut hat", lautet ein Eintrag von 1970.
Nicht nur aufgrund dieser authentischen, nie kitschig oder phony
wirkenden, vielleicht wirklich fast jesuanischen oder franziskanischen
Kindlichkeit, Unschuld und Vertrauensseligkeit Rudi Dutschkes jedoch
(sie wird sich nach dem Attentat, in den frühen Siebzigerjahren,
charakteristischer- und verständlicherweise in einen
veritablen Verfolgungswahn wandeln) sind seine Aufzeichnungen fesselnd und
bewegend. Rührend und tragisch ist zum Beispiel auch auch die konkrete
Poesie seiner Notizen aus der Zeit der Rekonvaleszenz nach dem
Kopfschuss: "1.mal wieder die Namen der Freunde aufgeschrieben mit Hilfe
von Gretchen im Krankenhaus Westend. Gaston. Christian Semler. Bernd
Rabehl. Meschkat. Gollwitzer. Krippendorf. Wolfgang Neuss.
Enzensberger."
Überhaupt muss Dutschke ein Genie der Freundschaft gewesen sein. Besuche
von Freunden, Besuche bei Freunden, skrupulös integre Bemühungen um das
Austragen und innerliche "Ausdiskutieren" von Konflikten und
Gefühlsstürmen in der ambivalenten Freundschaftsbeziehung zu Bernd
Rabehl oder in der oft wohl auch schwierigen Ehe mit Gretchen Dutschke
füllen die Seiten des Bandes, Notizen über seine Beziehung zu dem
Attentäter, der lang nach seinem eigenen Selbstmord mittelbar zu seinem
Todesengel werden sollte, einsichtige psychologische Porträts von
prominenten Mitstreitern, Gegnern und unzähligen
Zufallsbekannten. Vor allem aber sind seine Tagebücher das Arbeitsjournal eines unermüdlich
und unersättlich Lesenden, eines mit Theorien in einem sehr
lebenspraktischen Sinn umgehenden Intellektuellen.
Gerade weil Rudi Dutschke kein bedeutender theoretischer Kopf gewesen
ist, sind seine Aufzeichnungen ein wichtiges Dokument für die -
politisch nicht ungefährliche - lebenspraktische Unmittelbarkeit, mit
der die Achtundsechziger-Generation sich mit politisch-soziologischen
Theorien identifiziert und sie noch in die alltäglichsten
Lebenssituationen "eingebracht" hat: "Ho (der Sohn Hosea-Che, S. W.)
drückt schon jetzt 'proletarischen Klassencharakter' aus, weil sein
lebendiges und handelndes Verhalten immer selbstständiger geworden ist;
die nun wohl entstandene antiautoritäre Verhaltensweise wird die
entscheidende Permanenz der Entwicklung, wenn wir die Methode der
Beobachtung richtig handhaben, 'gewährleisten' … Diktatur des
Proletariats --- sich 'rationalisierende'
Diktatur des Kindes."
Dutschkes sehr intensive Beziehung zu seinen Kindern, den "Banditen",
wie er sie, in Anspielung auf seinen Lieblingsfilm "Viva Maria" zärtlich
nennt, ist auch unter einem theoretisch-politischen Aspekt
aufschlussreich für sein revolutionäres Selbstverständnis. Walter
Benjamins Ende der Zwanzigerjahre Asja Lacis zuliebe geschriebener
Aufsatz über das Programm eines proletarischen Kindertheaters hat
Dutschke für einen in seiner Allgemeingültigkeit noch zu entdeckenden
Zentraltext über Kindererziehung überhaupt gehalten. Zugleich aber
könnte man mit Grund die Apo selber als proletarisches Kindertheater
beschreiben. "Wahrhaft revolutionär", so endet Benjamins seltsamer,
exoterisch marxistisch-leninistischer, insgeheim jedoch eher mystisch
inspirierter Text, "wirkt das geheime Signal, das aus der kindlichen
Geste spricht". Eine der kindlichsten Gesten Rudi Dutschkes war es, dass
er für seine öffentlichen Auftritte, für sein Sprechen ex
cathedra, sich
jenes singenden, die Vokale dehnenden und das "R" rollenden Tonfalls
bediente, mit dem er die Stimmen der dissidenten jüdischen Großväter und
Väter wiederauferstehen ließ, deren theoretischem Erbe er sich in einer
fast schamanistischen Identifikation verpflichtet hatte (das Verhältnis
zu Ernst und Carola Bloch hat den linken Familienroman bis zu Rudis Tod
in eine Art Wirklichkeit überführt). Es ist Rudi Dutschke in seinem
politischen Agieren um eine kindliche Wiederaufführung der Theorien und
Dramen der Zwanzigerjahre gegangen.
Wie Hosea Che - die Aufzeichnungen nennen ihn respektvoll-rivalisierend,
nie ohne Bewunderung: "der Rebell" - sich gegen die väterliche Autorität
auflehnt, die "kritisch-solidarisch" dagegenhält, so war diese
Identifikation mit dem verlorenen und ermordeten jüdisch-dissidenten
Erbe zugleich das Hamlet-Projekt einer theatralen Entlarvung der
schweigenden, nazistisch verdächtigen Vater-Welt. In der
Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas Vorwurf des linken Faschismus
zeigt sich für einen Moment das psychodynamische Unterfutter der
APO-Dramaturgie. Der Mordverdacht gegen die Väter blitzt auf: "Der
Vorwurf reduzierte sich darauf, dass ich, der ich durch Aktionen die
sublime Gewalt zwinge, manifest zu werden, bewusst Studenten ,verheizen'
wolle … Habermas will nicht begreifen, dass allein sorgfältige Aktionen
Tote, sowohl für die Gegenwart als noch mehr für die Zukunft vermeiden
können."
Eine echte Überraschung ist die in diesem Aufzeichnungsband wohl zum
ersten Mal so vollständig dokumentierte und im Zusammenhang sichtbare
Unmittelbarkeit und Kontinuität, mit der Rudi Dutschkes protestantische
Frömmigkeit in sein antiautoritäres und sozialistisches Engagement ein-
und übergegangen ist. Noch Ostern 1964, schon verstrickt in die
"Richtlinien und Anschläge" der situationistischen Münchener Gruppe um
Dieter Kunzelmann, schrieb er, der gekreuzigte Christus weise "allen
Menschen einen Weg zum Selbst - diese Gewinnung der inneren Freiheit ist
für mich allerdings nicht zu trennen von der Gewinnung eines Höchstmaßes
an äußerer Freiheit; die gleichermaßen und vielleicht noch mehr erkämpft
sein will". Das protestantische Pfarrhaus und die luthersche "Freiheit
eines Christenmenschen" steht am Anfang des Wegs zu Fanon und Mao und
noch 1974, in Notizen über seine stets präsente Angst vor einem Rückfall
in die epileptischen Anfälle, die ihn seit seiner Kopfverletzung
heimsuchten, steht: "Ich wäre Gott dankbar, du siehst die christliche
Befangenheit gerade in Gefahrenmomenten."
Auch wohl zum ersten Mal im Kontext zugänglich und nachzulesen ist in
"Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963-1979", aber
auch Dutschkes politischer Realismus, der sich in seiner kompromisslosen
Ablehnung der RAF und der genervt-distanzierten Sicht auf die
maoistische Wiederbelebung der stalinistischen Parteikonzepte durch
Semler und Horlemann zeigt. Menschlich imponierend ist in all diesen
Auseinandersetzungen, dass der emotionale Empathie-Kontakt zu den
Protagonisten auch der sekten- und wahnhaften Formen des Agitprop in
seinen Aufzeichnungen nie abreißt (mit der für Dutschkes politisches
Gespür imponierend bezeichnenden Ausnahme Andreas Baaders, bei dessen
Erwähnung wirklich so etwas wie Abscheu spürbar ist). Und nicht zuletzt
Dutschkes Patriotismus, sein frühes Nachdenken über die Notwendigkeit
und Wünschbarkeit der deutschen Wiedervereinigung finden in diesem Band
ihren konkreten Ort in seinem Leben und Denken.
Wir erhalten mit diesem Buch zum ersten Mal ein konkretes Bild dieses
noch auf seinen Abwegen menschlich beeindruckenden und als öffentliche
Figur in vieler Hinsicht großen Politikers, der inzwischen, so lang nach
seinem Tod, zu einem der Gründerväter unserer Republik geworden ist.
(Quelle:
Die Tageszeitung,
Berlin) |