Edelbert Richter: Eine zweite Chance?
Die Sozialdemokratie unter dem Druck der "Globalisierung".


Hamburg: VSA-Verlag 2002. 300 S. 15,50 Euro. ISBN: 3-87975-895-6 (mehr Infos / bestellen


show CoverDer Kriegskapitalismus. Unter diesem Titel bespricht Gerhard Zwerenz Edelbert Richters neues Buch in Heft 02/2003 der Zwei-Wochen-Zeitschrift "Ossietzky". Sein Fazit: "Diese Schrift durchzieht ein Hauch frischen, lutherischen Wartburg-Windes: Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen Gang, du wirst kuschen müssen, willst du nicht aus deiner SPD gefeuert werden."

Schon in Ossietzky 20/2002 berichteten wir vom "scharfsinnigen Nürnberger Endzeitphilosophen Robert Kurz", der "seit Jahren den baldigen Untergang des Kapitalismus" konstatiert. In einer Kolumne der Tageszeitung Neues Deutschland wechselt Kurz sich mit den Ökonomen Christa Luft, Rudolf Hickel und Harry Nick ab, die differenten Artikel sind immer lesenswert. Jüngst setzte Harry Nick dort einen Akzent, der zu Robert Kurz den äußersten Gegensatz darstellt: "Jeder, der arbeiten kann und will, könnte eine existenzsichernde Arbeit erhalten.

Das Sozialsystem könnte trotz sich ändernder Alterspyramide der Bevölkerung erhalten werden. Und das alles in dieser Welt und nicht erst in einer jenseits von Marktwirtschaft und Kapitalismus." Frappierend, schrieb Nick, sei aber "der Umstand, dass eindeutige Nachweise, dass das möglich wäre, kaum ins öffentliche Bewusstsein gelangen... Die politische Sisyphusarbeit beginnt beim richtigen Benennen der Verhältnisse, beim Benennen des verbalen Mülls. Es müssen die einfachen Fragen ans Licht geholt werden..."

In der Tat, das Land ist nach Klassenlage klassengespalten, nicht Rationalität ist gefragt, aber ideologische Interessenvertretung, das Resultat sind Sklavensprachen, die vernebeln, komplizieren, verwirren. Eine Gruppe nach Partei und Status ungebundener Analysten könnte mit geradezu mathematischer Präzision die Realisierbarkeit des Nick'schen Programms untersuchen (dessen Einzelpunkte aufmerksamen Zeitungslesern nicht fremd sind); gelangten sie, was ziemlich sicher wäre, zur Akzeptanz der zwölf Punkte, fänden sich mit Sicherheit so viele bourgeoise Gegner, dass alles scheiterte.

Genau dies ist der Fakt, bei dem Robert Kurz gegen Harry Nick siegt. Nick erklärt ausdrücklich, seine Vorschläge seien »von dieser Welt«. Gemeint ist, es bedarf dazu keiner Systemänderung, man verbliebe in »Marktwirtschaft und Kapitalismus«. Kurz hält das für unmöglich und hat insofern recht, als das Nick'sche Programm von den bürgerlichen Parteien nicht als marktwirtschaftlich akzeptiert, sondern als Sozialismus verteufelt und verhindert würde.

Der Sozialdemokratie wiederum fehlen Wille und Energie, es zu vertreten. Sie wird von den Meinungsmachern nicht als bürgerliche Partei bewertet, ist es aber in solchem Maße, dass sie eine systemimmanente, jedoch wirksam einschneidende Reform scheut. So entsteht jene komplette Unreformierbarkeit, die von Bürgerlichen und Sozialdemokraten gemeinsam beklagt und zugleich garantiert wird. Nun hätte die PDS Nicks Programm im Parlament vertreten können, wäre sie nicht mangels Chuzpe, strategischer Energie und Phantasie rausgeflogen, vom Restbestand zweier couragierter Frauen abgesehen, deren Wirkungsmöglichkeit den Symbolstatus nicht überschreitet.

Allerdings erschien gerade jetzt bei VSA in Hamburg das Buch "Eine zweite Chance – Die SPD unter dem Druck der 'Globalisierung'" von dem protestantischen Sozialdemokraten Edelbert Richter. Der vormalige Thüringer Bürgerrechtler, der dieser Bezeichnung weiterhin treu zu sein versucht (und Ossietzky-Lesern auch als Autor bekannt ist), beklagt nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag die notorische Statistenrolle der Bundestagsmitglieder, denn "dann stimmt etwas an der parlamentarischen Demokratie nicht mehr, und dann bleibt mir nur noch das öffentliche Wort".

Richter zählt darauf, gehört zu werden, nachdem er als MdB unerhört blieb, was seinen Optimismus nicht gerade materiell unterfüttert. Tatsächlich dürfte ein Drittel der SPD-Fraktion von Hermann Scheer bis Ludwig Stiegler Richters Denkweise nahe stehen. Früher wären hier auch Scharping, Struck und Lafontaine zu nennen gewesen, was die Kalamität bezeichnet. Mit der Karriere ändert sich die werte Seele: Die beiden ersteren sind dem zweigesichtigen Gott Janus verpflichtet, der dritte stieg, um sich zu bewahren, aus. Dies ist die Crux der Realität: Mann ist nicht Mann, aber seine Entzweiung. Wer sich für die Karriere entscheidet, wird ein anderer und entfremdet sich von seiner vorherigen Gestalt.

Richter weiß Bescheid und fasst hier sein Wissen und Wirken zusammen - von der Ökonomie bis zu Krieg und Frieden. Dem Marxisten scheint manches, was da gesagt wird, ein wenig umständlich, dem linken Oppositionellen zu zahm. Das betrifft nicht Richters Resultate, die in Richtung der zwölf Punkte von Harry Nick liegen. Allerdings können Richter wie Nick nicht mehrheitsfähig werden im Lande der verordneten Sklavensprache, wo mediale Hampelmänner an den Strippen ihrer Besitzständler zappeln.

"Feudalismus in neuer Gestalt?" fragt Richter und konstatiert die "Sackgasse" der Vereinigungspolitik und -wirtschaft: "Denn die DDR war weder 'bankrott', noch war das Produktivkapital, das sie hinterließ, 'alles Schrott'". Am Ende konstatiert er "Defizite in der Selbstbehauptung Europas", fordert eine "neue Weichenstellung", agiert gegen den "Druck, der von der neuen amerikanischen Führung ausgeht" und spricht glattweg von der falschen "Tendenz, vom Recht weg nach rechts zu gehen".

Diese Schrift durchzieht ein Hauch frischen, lutherischen Wartburg-Windes: Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen schweren Gang, du wirst kuschen müssen, willst du nicht aus deiner SPD gefeuert werden. Warum fällt mir da nur Wolfgang Ullmann ein, der das 21. Jahrhundert als ein "Jahrhundert des Pazifismus" ausrief, während der US-Präsident begann, die Welt unter den Stiefel des Kriegskapitalismus zu nehmen, des höchsten Stadiums des Fordismus. Jedem, der anders will, eine Rakete aufs Dach und eine Kugel in die Stirn, das ist die Antwort der gutgeölten Bush- und Blitzkrieger auf die guten Worte der Ullmann und Schorlemmer und auf die klugen Ratschläge von Harry Nick, Robert Kurz bis Edelbert Richter.

Seit die Reform des Sozialismus misslang und die Kommunisten abtraten, gilt das eherne Gesetz des Kriegskapitalismus, der nun seinen alten Erzfeind Marxismus durch den neuen Erzfeind Islam ersetzen muss, denn ohne Todfeindschaft geht die Chose nicht.

Gerhard Zwerenz, Ossietzky Nr. 02/2003 (SOPOS)


Über das Buch
Bilanz und Perspektiven von Rot in Rot-Grün aus der Perspektive eines Mitstreiters: Dieses Buch dokumentiert die Auseinandersetzung des Weimarer Bürgerrechtlers und SPD-Bundestagsabgeordneten (bis 22.09.2002) mit der Politik der eigenen Regierung. Im Zentrum steht die Frage nach dem Fortbestand der Demokratie angesichts globaler Veränderungen in den wirtschaftlichen Beziehungen.

Über den Autor
Dr. Edelbert Richter war SPD-Bundestagsabgeordneter aus Weimar von Oktober bis Dezember 1990 sowie von 1994 bis 2002 und Mitglied der Enqu
ête-Kommission des Bundestages "Globalisierung der Weltwirtschaft". Richter ist zudem Mitglied der Grundwertekommission und des Vorstandes des Forums Ostdeutschland der SPD sowie Initiator der Arbeitsgruppe "Perspektiven für Ostdeutschland" und der Initiative "Thierse hat Recht". Diverse Buchveröffentlichungen.
Verlagsinformation


Inhalt:

  • Vorwort

  • Einleitung

  • "Modernisierung" als Anpassung?
    Dritter Weg ja, aber europäisch: Zum Schröder-Blair-Papier
    Haushaltskonsolidierung ja, aber ökonomisch sinnvoll
    Haushaltskonsolidierung ja, aber sozial gerecht
    Das Spardiktat des Weltfinanzmarktes
    Feudalismus in neuer Gestalt?
    "Shareholder-value" in der Steuerpolitik

  • "Chefsache" Aufbau Ost
    Die Revolution von 1989 als Herausforderung für Gegenwart und Zukunft
    Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion: Ein Rückblick
    Globale Hintergründe der ostdeutschen Stagnation Ostdeutscher Beitrag zur politischen Kultur?
    Eine Bilanz der "Chefsache"
    Wie kann die ostdeutsche Produktionslücke geschlossen werden? Bausteine zu einem Aktionsprogramm

  • "Uneingeschränkte Solidarität" und Globalisierung
    Mythos Freihandel
    Wie weiter im internationalen Handel?
    Kurze Geschichte des Weltfinanzmarktes
    Die Europäische Währungsunion als Vorstoß zur Regulierung des Weltfinanzmarktes?
    Zur Geschichte der militärischen Vorherrschaft der Vereinigten Staaten
    Auf dem Weg zum globalen Leviathan?

  • Zusammenhänge


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Stand: 28. Dezember 2006
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