Der
Kriegskapitalismus. Unter diesem Titel bespricht Gerhard Zwerenz Edelbert
Richters neues Buch in Heft 02/2003 der Zwei-Wochen-Zeitschrift "Ossietzky".
Sein Fazit: "Diese Schrift durchzieht ein Hauch frischen,
lutherischen Wartburg-Windes: Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen Gang,
du wirst kuschen müssen, willst du nicht aus deiner SPD gefeuert
werden."
Schon in Ossietzky 20/2002 berichteten wir vom "scharfsinnigen Nürnberger
Endzeitphilosophen Robert Kurz", der "seit Jahren den baldigen Untergang
des Kapitalismus" konstatiert. In einer Kolumne der Tageszeitung Neues
Deutschland wechselt Kurz sich mit den Ökonomen Christa Luft, Rudolf Hickel und Harry Nick ab, die differenten Artikel sind immer lesenswert. Jüngst
setzte Harry Nick dort einen Akzent, der zu Robert Kurz den äußersten
Gegensatz darstellt: "Jeder, der arbeiten kann und will, könnte eine existenzsichernde Arbeit erhalten.
Das Sozialsystem könnte trotz sich ändernder Alterspyramide der Bevölkerung
erhalten werden. Und das alles in dieser Welt und nicht erst in einer
jenseits von Marktwirtschaft und Kapitalismus." Frappierend, schrieb
Nick, sei aber "der Umstand, dass eindeutige Nachweise, dass das möglich
wäre, kaum ins öffentliche Bewusstsein gelangen... Die politische
Sisyphusarbeit beginnt beim richtigen Benennen der Verhältnisse, beim
Benennen des verbalen Mülls. Es müssen die einfachen Fragen ans Licht
geholt werden..."
In der Tat, das Land ist nach Klassenlage klassengespalten, nicht
Rationalität ist gefragt, aber ideologische Interessenvertretung, das
Resultat sind Sklavensprachen, die vernebeln, komplizieren, verwirren.
Eine Gruppe nach Partei und Status ungebundener Analysten könnte mit
geradezu mathematischer Präzision die Realisierbarkeit des Nick'schen
Programms untersuchen (dessen Einzelpunkte aufmerksamen Zeitungslesern
nicht fremd sind); gelangten sie, was ziemlich sicher wäre, zur Akzeptanz
der zwölf Punkte, fänden sich mit Sicherheit so viele bourgeoise Gegner,
dass alles scheiterte.
Genau dies ist der Fakt, bei dem Robert Kurz gegen Harry Nick siegt. Nick
erklärt ausdrücklich, seine Vorschläge seien »von dieser Welt«.
Gemeint ist, es bedarf dazu keiner Systemänderung, man verbliebe in »Marktwirtschaft
und Kapitalismus«. Kurz hält das für unmöglich und hat insofern recht,
als das Nick'sche Programm von den bürgerlichen Parteien nicht als
marktwirtschaftlich akzeptiert, sondern als Sozialismus verteufelt und
verhindert würde.
Der Sozialdemokratie wiederum fehlen Wille und Energie, es zu vertreten.
Sie wird von den Meinungsmachern nicht als bürgerliche Partei bewertet,
ist es aber in solchem Maße, dass sie eine systemimmanente, jedoch
wirksam einschneidende Reform scheut. So entsteht jene komplette
Unreformierbarkeit, die von Bürgerlichen und Sozialdemokraten gemeinsam
beklagt und zugleich garantiert wird. Nun hätte die PDS Nicks Programm im
Parlament vertreten können, wäre sie nicht mangels Chuzpe, strategischer
Energie und Phantasie rausgeflogen, vom Restbestand zweier couragierter
Frauen abgesehen, deren Wirkungsmöglichkeit den Symbolstatus nicht überschreitet.
Allerdings erschien gerade jetzt bei VSA in Hamburg das Buch "Eine zweite
Chance – Die SPD unter dem Druck der 'Globalisierung'" von dem
protestantischen Sozialdemokraten Edelbert Richter. Der vormalige Thüringer
Bürgerrechtler, der dieser Bezeichnung weiterhin treu zu sein versucht
(und Ossietzky-Lesern auch als Autor bekannt ist), beklagt nach seinem
Ausscheiden aus dem Bundestag die notorische Statistenrolle der
Bundestagsmitglieder, denn "dann stimmt etwas an der parlamentarischen
Demokratie nicht mehr, und dann bleibt mir nur noch das öffentliche Wort".
Richter zählt
darauf, gehört zu werden, nachdem er als MdB unerhört blieb, was seinen
Optimismus nicht gerade materiell unterfüttert. Tatsächlich dürfte ein
Drittel der SPD-Fraktion von Hermann Scheer bis Ludwig Stiegler Richters
Denkweise nahe stehen. Früher wären hier auch Scharping, Struck und
Lafontaine zu nennen gewesen, was die Kalamität bezeichnet. Mit der
Karriere ändert sich die werte Seele: Die beiden ersteren sind dem zweigesichtigen
Gott Janus verpflichtet, der dritte stieg, um sich zu bewahren, aus. Dies
ist die Crux der Realität: Mann ist nicht Mann, aber seine Entzweiung.
Wer sich für die Karriere entscheidet, wird ein anderer und entfremdet
sich von seiner vorherigen Gestalt.
Richter weiß Bescheid und fasst hier sein Wissen und Wirken zusammen -
von der Ökonomie bis zu Krieg und Frieden. Dem Marxisten scheint manches,
was da gesagt wird, ein wenig umständlich, dem linken Oppositionellen zu
zahm. Das betrifft nicht Richters Resultate, die in Richtung der zwölf
Punkte von Harry Nick liegen. Allerdings können Richter wie Nick nicht
mehrheitsfähig werden im Lande der verordneten Sklavensprache, wo mediale
Hampelmänner an den Strippen ihrer Besitzständler zappeln.
"Feudalismus in neuer Gestalt?" fragt Richter und konstatiert die "Sackgasse"
der Vereinigungspolitik und -wirtschaft: "Denn die DDR war weder
'bankrott', noch war das Produktivkapital, das sie hinterließ, 'alles
Schrott'". Am Ende konstatiert er "Defizite in der Selbstbehauptung
Europas", fordert eine "neue Weichenstellung", agiert gegen den "Druck,
der von der neuen amerikanischen Führung ausgeht" und spricht glattweg
von der falschen "Tendenz, vom Recht weg nach rechts zu gehen".
Diese Schrift durchzieht ein Hauch frischen, lutherischen Wartburg-Windes:
Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen schweren Gang, du wirst kuschen müssen,
willst du nicht aus deiner SPD gefeuert werden. Warum fällt mir da nur
Wolfgang Ullmann ein, der das 21. Jahrhundert als ein "Jahrhundert des
Pazifismus" ausrief, während der US-Präsident begann, die Welt unter
den Stiefel des Kriegskapitalismus zu nehmen, des höchsten Stadiums des Fordismus. Jedem, der anders will, eine Rakete aufs Dach und eine Kugel in
die Stirn, das ist die Antwort der gutgeölten Bush- und Blitzkrieger auf
die guten Worte der Ullmann und Schorlemmer und auf die klugen Ratschläge
von Harry Nick, Robert Kurz bis Edelbert Richter.
Seit die Reform des Sozialismus misslang und die Kommunisten abtraten,
gilt das eherne Gesetz des Kriegskapitalismus, der nun seinen alten
Erzfeind Marxismus durch den neuen Erzfeind Islam ersetzen muss, denn ohne
Todfeindschaft geht die Chose nicht.
Gerhard
Zwerenz, Ossietzky
Nr. 02/2003 (SOPOS)
Über
das Buch
Bilanz und Perspektiven von Rot in Rot-Grün aus der Perspektive eines
Mitstreiters: Dieses Buch dokumentiert die Auseinandersetzung des Weimarer
Bürgerrechtlers und SPD-Bundestagsabgeordneten (bis 22.09.2002) mit der
Politik der eigenen Regierung. Im Zentrum steht die Frage nach dem
Fortbestand der Demokratie angesichts globaler Veränderungen in den
wirtschaftlichen Beziehungen.
Über den Autor
Dr. Edelbert Richter war SPD-Bundestagsabgeordneter aus Weimar von Oktober
bis Dezember 1990 sowie von 1994 bis 2002 und Mitglied der Enquête-Kommission
des Bundestages "Globalisierung der Weltwirtschaft". Richter ist
zudem Mitglied der Grundwertekommission und des Vorstandes des Forums
Ostdeutschland der SPD sowie Initiator der Arbeitsgruppe
"Perspektiven für Ostdeutschland" und der Initiative
"Thierse hat Recht". Diverse Buchveröffentlichungen.
Verlagsinformation
Inhalt:
-
Vorwort
-
Einleitung
-
"Modernisierung"
als Anpassung?
Dritter Weg ja, aber europäisch: Zum Schröder-Blair-Papier
Haushaltskonsolidierung ja, aber ökonomisch sinnvoll
Haushaltskonsolidierung ja, aber sozial gerecht
Das Spardiktat des Weltfinanzmarktes
Feudalismus in neuer Gestalt?
"Shareholder-value" in der Steuerpolitik
-
"Chefsache"
Aufbau Ost
Die Revolution von 1989 als Herausforderung für Gegenwart und Zukunft
Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion: Ein Rückblick
Globale Hintergründe der ostdeutschen Stagnation Ostdeutscher Beitrag
zur politischen Kultur?
Eine Bilanz der "Chefsache"
Wie kann die ostdeutsche Produktionslücke geschlossen werden?
Bausteine zu einem Aktionsprogramm
-
"Uneingeschränkte
Solidarität" und Globalisierung
Mythos Freihandel
Wie weiter im internationalen Handel?
Kurze Geschichte des Weltfinanzmarktes
Die Europäische Währungsunion als Vorstoß zur Regulierung des
Weltfinanzmarktes?
Zur Geschichte der militärischen Vorherrschaft der Vereinigten
Staaten
Auf dem Weg zum globalen Leviathan?
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Zusammenhänge
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