Miguel Mejides

... eine Reise auf den Spuren des "son cubano" ...

Zweisprachige Lesung aus: "Insel der Musik – Isla de la música"


Donnerstag, 12. Juni 2003, 20:30 Uhr

Buchladen Neuer Weg, Sanderstr. 23-25, 97070 Würzburg

Eintritt: 6 €, ermäßigt: 4 €

Eine Veranstaltung der Cuba-Solidarität Würzburg e.V.


"Die Kunst ist der Herzschlag der Völker", sagt Mejides. "Jeder Mensch ist ein Stern, ein einzigartiger riesengroßer Stern und zugleich ein winziges Staubkorn im Weltall." Das zu begreifen, sei die Grundlage einer wirklich demokratischen Kultur.

Mejides meint damit die Möglichkeit aller, am kulturellen Schaffensprozess teilzuhaben und ihn von der Basis her selbst zu bestimmen. Ihm ist die Vermittlung des Arbeitsprozesses an sein Publikum wichtig, damit jeder nachvollziehen kann, dass Schreiben nichts Hehres ist, das einem die Götter in die Wiege legen, sondern eine Arbeit aus konkreten Schritten.

Graziano Bartolini kam als Fotograf für Wim Wenders’ "Buena Vista Social Club" nach Kuba, um Begleitfotos zum Film zu schießen. Dabei traf er Miguel Mejides, der Graziano einlud, auf einer späteren Rundreise durch Kuba die wirklichen Wurzeln und Klänge der kubanischen Musik zu erleben, die eben nicht in den Touristenclubs, sondern auf den Plätzen und in den Cafés der Dörfer gespielt wird.

Das Ergebnis dieser dreiwöchigen Reise durch Kuba ist ein Buch mit ca. 80 Fotos von Graziano Bartolini, einer verzaubernden Erzählung von Miguel Mejides und einer CD mit Original-Aufnahmen, die mit den MusikerInnen vor Ort gemacht wurden.

 

Miguel Mejides; Graziano Bartolini:

Insel der Musik, Buch u. Audio-CD.
Isla de la musica. Buch: dtsch.-span. CD: Original kubanische Son-Musik. 75 Min. 2003. 150 S.
ISBN: 3-926529-45-8
-ATLANTIK-

22.00 EUR

 


Person:
Miguel Meijdes


1950 geboren in Camagüey (Zentral-Cuba
)

Geschichtsstudium an der
Uni
Camagüey

1977 "Tiempo de hombres" (Zeit der Menschen)

1988 - 1993 Vorsitzender des kubanischen Schriftstellerverbandes

Mejides lebt und arbeitet in Havanna
 


Titel von Mejides


Rumba Palace. Erzählungen aus Kuba. 1998. 123 Seiten.
-ATLANTIK-

12.80 EUR


Literarische Preise

1983 Nationaler Literaturpreis Kubas (für: Tiempo de hombres)

1984 Nationaler Literaturpreis Kubas (für: El jardin de las flores silvestres)

1994 Juan-Rulfo-Preis (für: Rumba Palace)

1996 Auszeichnung für die nationale Kultur der Republik Cuba


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Leseprobe:

OUVERTÜREN

Der Kellner mit der braunen Fliege

Havanna, am 8. Mai 0000 (Ein Restaurant an einem Platz, von dem gesagt wird, daß dort Christus erscheine)

Die Bücher, die Fotos, sogar das Leben selbst – erst träumt man es und dann folgt man einfach der Spur der Erinnerung. In jener Regenzeit des Jahres 0000 speisten wir, eine Gruppe von Freunden, im Restaurant des Kellners mit einer Fliege von eleganter Farbe. Seit unserer Ankunft hatten wir uns über die braune Fliege des Kellners lustig gemacht. Bei jeder unserer Bestellungen näherte sich der Kellner geschäftig und rückte die Fliege zurecht. Es war, als ob seine gesamte Existenz von dieser braunen Fliege um seinen Hals abhinge.

»Seine Frau liebt ihn in seiner Nacktheit, die sich nur durch die einsame Fliege offenbart«, sagte ich.

»Das glaube ich nicht«, widersprach Danilo Manera, »ich verstehe sie als eine Liebeserklärung.«

Nach einer Weile tauchte ein Trio auf. Jede Ecke Havannas genießt die Gnade irgendwelcher Combos, irgendwelcher Orchester wilder Frauen. Unser-Täglich-Brot-Trio war jenes. Die Musiker trugen guayaberas, Hosen aus abgenutztem Musselin und Schuhe der Rationierung. Wie immer oder fast immer sangen sie für uns Lágrimas Negras und Son de la Loma. Danach streckte uns ein alter Mann würdevoll seinen Hut à la Wilhelm Tell (nur die Feder fehlte) entgegen. Loris zählte ein paar Münzen ab und warf sie in diese Schatzkiste. Der Alte machte mit den maracas in der Luft eine magische Geste und wünschte uns allen die Gesundheit des Christus vom Platze, was wir in jenem Augenblick nicht verstanden.

Dann erschien die mulata mit der Haltung einer Sonnenblumengiraffe, magnetischem Haar und so schwarzen Augen, daß sie wie eine absolute Herausforderung an die ewige Nacht wirkten. Sie wandte sich an unseren Tisch und sprach Juanito an, den Fahrer, der bis zu diesem Augenblick kein einziges Wort gesagt hatte, so vertieft war er in eine Portion süßer Garnelen und einen Avocado-Salat.

»Du Schlemmer kennst dieses Havanna, warne sie vor, daß nichts von dem, was sie gesehen haben, stimmt, daß diese Musiker verkleidete Engel in guayaberas sind, daß der Kellner mit der braunen Fliege Christus ist, daß er nur deshalb hier serviert, weil er sich so danach sehnt, den Menschen gegenüberzutreten.«

Die mulata drehte uns den Rücken zu, setzte ihre Architektur in Bewegung und verlor sich mit ihren silberfarbenen Ballerinas durch eine Seitentür. Juanito machte eine Bemerkung über den Wahnsinn, sagte, daß die Stadt dabei sei, verrückt zu werden und daß die mulatas anfälliger seien für solchen Unsinn.

Gleich darauf vergaßen wir sie und unterhielten uns bei Wein und Bier, die den Durst des kubanischen Nachmittags nicht löschen konnten, über das, worüber sich die Menschen immer beim Essen unterhalten: die Chimären der Existenz; und der eine oder andere erinnerte sich sogar an eine in Gedächtnislöchern verlorengegangene Landschaft.

In Erwartung jenes unverzichtbaren Kaffees, der jedes kubanische Abendessen beschließt, sah ich auf die Musiker. Ich begann, mir dieses Trio – so exzentrisch sind die Träumereien – im Himmel vorzustellen, in den Wolken, mit Engelsflügelchen. Die Ewigkeit wie auf den Platten einer in Sepia versunkenen Daguerrotypie.

»Ich will ein Foto von den Musikern und dem Kellner mit der Fliege«, sagte Graziano in seiner Fotografentreue. Mit seinem fabelhaften berufstypischen Leichtsinn tauchte er seine Linse in die Intimität, zeichnete das Innerste der Musiker auf, die Verdauung des Kellners und zum Schluß alle zusammen, den Kellner, die Musiker, uns.

An jenem Tag tranken wir nach dem Kaffee noch bis tief in die Nacht, und das Trio wühlte in seinen Erinnerungen und sang uns die schönsten Lieder, den Geist dieser Insel der Musik. Der Kellner mit der braunen Fliege vergaß seine Verfügbarkeit den Tischgästen gegenüber, er wollte an jenem langen Tag frei sein. Er bot sich Graziano an, ließ ihm mit der Kamera freie Hand, damit er ihn mit Fliege und ohne Fliege fotografierte, auf ihm spielte wie auf einer Gitarre, ihn für die Erinnerung festhielt mit seiner verdrehten Art, durch die Freude eines Fotos hindurch zu lächeln.

Als es von der Kathedrale neun Uhr schlug, verließen wir das Restaurant. Auf dem Weg zum russischen Wagen von Juanito sahen wir die mulata. Sie wartete in der Nacht auf einen Kunden, um im blauen Blut eines Traumes auf die Reise zu gehen. Von weitem wiederholte sie ihre Geschichte, daß die Musiker Engel seien, daß der Kellner mit der Fliege Gott sei. Sie zeigte auf den Brunnen in der Mitte des Platzes und sagte, daß um Punkt zwölf Uhr nachts der Kellner, bereits als Christus gekleidet, im Wasser dieses Brunnens badete.

Graziano, voreilig wie immer, fotografierte die mulata. Sie willigte voll und ganz ein und sagte, daß sie das einzig Reale an jenem Ort sei, das einzig Sichere, das einzig Greifbare. Ich dachte nur daran, die Flucht zu ergreifen, weshalb ich zu Graziano sagte, er solle die mulata gehen lassen und mit seiner Kamera einen Lichtblitz auf mich werfen. Ich wollte mich mit einer Fliege um den Hals sehen, mich erleiden, mich als Friedensrichter erkennen, als einen Hoffnungsstrahl für die Ruinen einer Stadt, die sich im fernen und bebenden Grollen der Trommeln behauptete.

»Und wenn der Kellner wirklich Christus ist?« sagte ich und niemand antwortete mir.

 

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Stand: 01. Februar 2006
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