Veza Canetti wurde
in den 90er Jahren als Autorin wieder entdeckt, aber bislang neben dem Werk ihres
berühmten Ehemannes, Elias Canetti, nach wie vor wenig zur Kenntnis genommen.
Im Zentrum ihrer Erzählungen stehen zumeist Frauen – Frauen, die aufgrund der
herrschenden Sozialstruktur zu Opfern werden, sei es in einer von Gewalt
beherrschten Ehe oder in der Abhängigkeit eines Angestelltenverhältnisses in
Zeiten steigender Arbeitslosigkeit und fehlender sozialer Absicherung.
Kennzeichnend dabei ist die naive Weltsicht ihrer Protagonistinnen, die fest an
die Gerechtigkeit und das Gute im Menschen glauben und damit unausweichlich in
einer Gesellschaft scheitern müssen, die von Prinzipien der Gewinnmaximierung
und Geltungssucht beherrscht ist.
Mit den Stilmitteln von Groteske und sanfter Ironie zeichnet sie jedoch ebenso
treffend ein Bild der "Täterinnen", die mit ihrer bodenständigen
Listigkeit dem Leser vertraut und auf ihre Art beinahe sympathisch erscheinen. |
Die aktuelle
Veröffentlichung von Veza Canetti: Die
Schildkröten
Veza Canettis unveröffentlichter Exil-Roman spielt in Österreich
nach dem "Anschluss": Ehemals friedliche Nachbarn werden plötzlich zu
Handlangern des NS-Regimes. Ein schockierender Roman, der die Ängste, die
Niedertracht und den Stolz der Menschen zeigt.
ISBN
3-446-19478-9, 36 DM
Rezension zu: Die Schildkröten
von Veza Canetti
Die Fratze des Jahr 1938 ist in
seinen unmenschlichen und erschütternden Facetten bereits in unzähligen
zeitgeschichtlichen Darstellungen wie auch in Romanen und Erinnerungen von
Zeitzeugen porträtiert worden. Veza Canettis zweiter aus dem Nachlass
publizierter Roman ist eine literarische Darstellung der Ereignisse, die es
dennoch schafft, Interesse zu wecken und eine neue Perspektive ermöglicht.
Selten wurden Unmenschlichkeiten und Anmaßungen, selbstverständlicher Größenwahn
kleiner Nazis und die Illusionen von Juden in einer derart zurückhaltenden
Prosa beschrieben.
Mehr Bewunderung als die tatsächliche Schilderung der Bemühungen
des Schriftsteller Dr. Andreas Kain und seiner Frau Eva um eine Ausreise aus der
"Ostmark , die naiven Versuche von Hilde, die tatsächlich glaubt, einen
Aeroplan für die Flucht von einem Nazi kaufen zu können, verlangt wohl der vor
dem Schreiben stattgefundene Prozess der Zurücknahme, der Selbstbeschränkung
der Autorin Respekt ab. Diese Perspektive muss eine ungeheure Kraftanstrengung
gekostet haben, wenn man bedenkt, dass der Roman unmittelbar nach der Flucht
nach England 1939 geschrieben wurde.
Diese Distanz, diese fast noble
Blasiertheit, mit der die Autorin über die Erniedrigungen schreibt, diese Fülle
an kleinen Kunstgriffen, die sie an ihren Opfern vollführt, wenn Eva die
Nazi-Frau, die die Villa "arisiert, sprich raubt, fragt, ob sie mit allem
zufrieden ist, lässt die menschlichen Klüfte, die Gräben, die zwischen
Menschen und Unmenschen bestehen, um so gewaltiger erscheinen.
Doch bei Canetti sind auch die Unmenschen keine
Monster mit Fratzen, sondern alltäglichen Erscheinungen, für die eben nur der
politische Rahmen geschaffen wurde, um ihre Gelüste ausleben zu können. Die
Zurückhaltung Canettis ist fast eine Provokation.
Canetti überzieht das Geschehen und ihre Personen mit einer Folie, einem
Schutzfilm der Menschlichkeit, der allen Personen, Opfern wie Tätern, das
Menschsein nicht abspricht. Dies hat nichts mit Naivität zu tun, vielleicht
aber mit Illusionen: in einer ersten Schicht der Erkenntnis dämmert bereits die
Shoa. (R. Streibel, Wien)
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