Peter Urban: "Verständigung ist nötiger denn je"

Dankesrede des Preisträgers
 

Das Bewusstsein der Völker sei in der Literatur besser aufgehoben als in der Geschichtsschreibung: Das betonte der Übersetzer und Herausgeber Peter Urban beim Festakt zum Leipziger Buchpreis

Ich danke für einen Preis, dessen Name mir sympathisch ist, denn er ist ein Programm: Als Akt der Verständigung habe ich mein Handwerk immer begriffen, seit mich 1964 die Belgrader Dichter Vasko Popa und Miodrag Pavovic zum Übersetzer promovierten mit dem Satz: Du kannst nicht ein Jahr in Belgrad studieren, ohne etwas für die serbische Literatur getan zu haben. Damit fing es an, und im alten Jugoslawien habe ich auch gelernt, um wie viel besser das Bewusstsein der Völker in deren Literatur aufbewahrt ist als in der Geschichtsschreibung. Geschichte wird von den Siegern geschrieben, zu denen haben Dichter und Schriftsteller selten gehört, und die Zeiten, in denen mit Marc Aurel ein Philosoph auf dem Kaiserthron saß, sind unwiderruflich vorbei. Verständigung haben wir nötiger denn je, Wolfgang Hilbig hat uns dies mit seinem neuen Roman »Das Provisorium« verstörend vor Augen geführt, indem er uns bedeutet: Ehe wir uns über »europäische« Verständigung unterhalten, sollten wir uns erst einmal mit der im eigenen Lande bescheiden und fragen: Sind wir zur Verständigung überhaupt fähig, sind wir zu ihr bereit? Meine Erinnerung an manche Kampagne gegen ostdeutsche Schriftsteller, losgetreten im Westen, lässt mich zögern, diese Frage zu bejahen. 

Es ist so viel vom neuen Selbstbewusstsein der neuen Deutschen die Rede. Wie sieht dieses Selbstverständnis aus, worauf gründet es, und wo sind seine Grenzen? Worauf gründet das Selbstbewusstsein jener jungen Bundeswehrsoldaten, die eine Autorin des »Spiegel-Almanachs 2000« beeindrucken durch "souveräne Lässigkeit im Umgang mit der Geschichte: '0b mein Großvater auf dem Balkan Greueltaten verübt hat, ist mir Banane', sagt Fallschirmspringer Patrick Braun, 26, aus Wiesbaden, 'ich bin hier die Friedensmacht.'" Ich gebe zu, mit diesem Knaben hätte ich Schwierigkeiten, mich zu verständigen. Ein Selbstbewusstsein, das immer die Gefahr der Selbstgerechtigkeit birgt und bereit ist zu töten, macht mir Angst. Mir wollen die Sätze des Soldaten nicht aus dem Sinn, der da, laut eben diesem Almanach, gesagt haben soll: "Ich habe nicht getötet, weil ich es wollte, sondern weil ich musste", und hinzufügt: "und glatt getroffen. Wenn schon, denn schon." Die Reporterin findet diese Auskunft »beeindruckend sachlich«, ich finde, ein mörderischer Stolz ist unüberhörbar.

 

Sprache kann verschleiern

Verständigung mit uns selbst, geschweige denn mit anderen, ist ohne Erinnerung der eigenen Geschichte undenkbar. Sie setzt die Fähigkeit und Bereitschaft zu verstehen voraus, und beide beruhen auf Sprache, ein besseres Mittel der Verständigung haben wir nicht. Auf die Frage, ob wir einander über­haupt noch verstehen können, muss die Gegenfrage lauten: Wie verstehen wir eine Sprache, die einen Krieg nicht mehr »Krieg« nennt, sondern verharmlosend »Konflikt« oder gar bloß »Krise«? Wie verstehen wir einen Kanzler, der vor die Kameras tritt und behauptet, wir führten keinen Krieg? Die Nato hat Krieg geführt, 78 Tage lang, 38 004 »Feindflüge« entsprechen knapp 490 pro Tag; die Nato hat das internationale Recht gebrochen und Krieg geführt gegen einen souveränen Staat, Krieg im Namen einer zweifelhaften Moral, angeblich zum Schutz der Menschenrechte, Krieg gegen Milosevic, getroffen hat sie, wie schon mit ihren Sanktionen, die serbische Bevölkerung. Und wie wenig ein Krieg Probleme löst, sondern neue schafft, ist an dem Desaster im Nato-Protektorat Kosovo täglich zu besichtigen. Dieser Krieg ist auch mit Sprache geführt worden, mit der Sprache der Lüge und Demagogie. Wie ist der Begriff »Friedensgespräche« zu verstehen, da in Rambouillet die eigentlichen Kontrahenten kein Wort miteinander gewechselt haben? Die CDU Hessens hat sich für die ungeheuerliche »jüdische Vermächtnis«-Lüge immerhin entschuldigt; aber hat man vom grünen Vizekanzler je auch nur ein Wort des Bedauerns gehört über dessen viel ungeheuerlicheres Diktum, er habe gelernt: Nie wieder Krieg, aber auch nie wieder Auschwitz? Unwidersprochen haben wir die wundersame Wandlung der Albaner im Kosovo erlebt: vom Terroristen über »Rebell« und »Freischärler« bis zum »UCK-Kämpfer«, dem Angehörigen einer »Befreiungsarmee«. Und wo bleiben wir mit all den anderen Separatisten Europas - der IRA, der ETA, den Kurden, den Korsen? Wie viel Scheinheiligkeit, wie viel Heuchelei in der Doppel- und Dreifachmoral der uns Regierenden!

Über den schändlichsten Begriff, den die Nato-Generäle hervorgebracht haben, die »Kollateralschäden«, ist das Nötige gesagt worden. Aber unsere öffentliche Sprache ist durchsetzt von Wörtern, die lügen, beschönigen, verzerren, verschleiern: »Luftschläge« klingen sauberer als Bombardement, der »Zerfall Jugoslawiens« hört sich an wie etwas Unabwendbares, gleichsam ein Naturereignis, und macht vergessen, dass die Zerstückelung dieses Landes, zu dessen Gründung in zwei Weltkriegen viel Blut geflossen ist, nicht allein auf die nationalistische Politik Milosevics zurückgeführt werden kann, sondern systematisch betrieben worden ist, auch von uns. Große Teile der deutschen Presse, vor allem aber die Fernsehanstalten - in den Balkankriegen von Anfang an Teil der Kriegspropaganda - scheinen gar nicht mehr zu merken, wie sehr sie, um Peter Handke zu zitieren, einer »nackten, geilen Kriegsstimmung« aufgesessen sind. Gesetzt den Fall, wir wollten verstehen, wie diese Stimmung herbeigeführt worden ist, es wäre ein Leichtes. Es begönne mit der Feststellung, dass die ersten Flüchtlinge der Balkankriege Serben waren; dass Staaten wie Kroatien, wie Bosnien zur Verbreitung ihrer Propagandalügen amerikanische Werbe-Agenturen wie Ruder Finn engagieren, deren Chef James Haff das Ziel seiner Arbeit so beschreibt: "Unser Job ist es nicht, Informationen [auf ihren Wahrheitsgehalt) zu überprüfen ... Unsere Aufgabe ist es, Informationen, die uns günstig erscheinen, schnell in Umlauf zu bringen und ein sorgsam ausgewähltes Ziel zu treffen." Das amerikanische Englisch verwendet hierfür den feinsinnigen Neologismus »Krisenkommunikation«.

 

Unkenntnis und Häme

Gesetzt den Fall, wir wollten wirklich verstehen, wie wir über zehn Jahre Krieg auf dem Balkan belogen worden sind, es genügte ein Blick in Mira Behams vorzügliche Analyse »Kriegstrommeln. Medien, Krieg & Politik«. Mein Eindruck ist aber: Wir wollen nicht. Wie versteht man den einhelligen Hass und die Häme, die Peter Handke entgegenschlugen, als er »Gerechtigkeit für Serbien« forderte? Einem Autor, der auf dem alten Grundsatz besteht: audiatur et altera pars und der wie kaum ein anderer weiß, wie man mit Wörtern und mit Bildern lügen kann? Einem Autor, der in einem, seiner schönsten Romane, der »Wiederholung«, seine Trauer um Jugoslawien, die ich teile, so rückhaltlos offen gelegt hat wie Wolfgang Hilbig seine Verzweiflung am zweigeteilten Deutschland? Allerdings hat Handke eine wesentliche Frage nicht vergessen, die er so beantwortet: "Der einzige Staat, der von der gegenwärtigen Lösung etwas hat, ist Deutschland. Deutschland hat jedes Interesse daran, dass es möglichst viele sklavenfähige Kleinstaaten gibt, ausgerichtet auf die Wirtschaftsmacht Deutschlands. Das wird immer klarer werden." Schlagzeile im Wirtschaftsteil der »FAZ« vom 22. Januar 2000: »Vom Wiederaufbau im Kosovo profitieren. Neues Firmenbüro soll hessischen Unternehmen Einstieg auf dem Südwestbalkan erleichtern.« Im Aufbau blühender Landschaften haben wir Erfahrung. Deutsche Politik auf dem Balkan hat eine Konstante, die stets hinauslief auf den Grundsatz: divide et impera. Schon 1842 nannte Friedrich List den Balkan »unser Hinterland«; in Erinnerung ist der Kampfruf Kaiser Wilhelms: »Serbien muss sterbien«. Auch die Nationalsozialisten haben Jugoslawien zerstückelt und aufgeteilt an gebietshungrige Vasallen - um in Serbien besonders grausam zu wüten, das Massaker von Kragujevac steht für viele. Die Hamburger Wehrmachtsausstellung, mit dem gleichen Hass aufgenommen wie Handkes Einrede, hat mir zum Beispiel erklärt, warum: Mit General Franz Böhme als Oberbefehlshaber in Serbien hat die Hitleradministration nicht zufällig einen Österreicher eingesetzt; der hatte, wie Zitate belegen könnten, für die Schüsse von Sarajewo 1914 mit den Serben eine Rechnung offen. - Unserer Geschichte entrinnen wir nicht, sie folgt uns auf Schritt und Tritt, wo auch immer, und so »normal« wir uns auch geben oder fühlen mögen. Unverständlich bleibt mir die Wut vor allem der Jüngeren auf Peter Handkes Einspruch. Woher kommt sie bei Leuten, die offenbar nie einen Blick in die Romane von Ivo Andric oder Danilo Kis geworfen haben, aus denen sie hätten lernen können? Was treibt Leute um, die keinen serbischen Namen buchstabieren, geschweige denn aussprechen können, aber eine abweichende, auf Kenntnis gegründete Meinung mit Hohn, Spott und Gemeinheiten überziehen? Woher der geradezu verbissene Wille, eine Poli­tik gutzuheißen, die sich 1999 selbst für bankrott erklärt hat? Sind Altlinke und Jüngere endlich beim Glauben angekommen? Oder ist es die alte, tief verwurzelte Sehnsucht, endlich auf der Siegerseite zu stehen, nachdem die Welt im 20. Jahrhundert am deutschen Wesen zweimal nicht genesen wollte? - Um den Boden für Verständigung mit Ostmitteleuropa, wie es so schön heißt, scheint es schlecht bestellt. Titelzahlen, Auflagenhöhen könnten belegen, wie wenig neugierig wir inzwischen sind. Umso höher bewerte ich diesen Preis. Ich verstehe ihn als Ermutigung, in meiner Arbeit fortzufahren vielleicht mit nichtübersetzten Texten von Danilo Kis, im Sinne des Camus'schen »trotzdem«. Ich danke Ihnen.


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Stand: 24. Dezember 2004
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