Krieg und Bürgerkrieg in Europa

Das Ende einer Epoche

Über 50 Jahre Frieden bestimmten den Erfahrungshorizont der unterschiedlichen Generationen im Nachkriegsdeutschland zwischen 1945 und 1999. Zur Kriegsgeneration gehörten noch Teile der sogenannten "Achtundsechziger", die als Kinder und Heranwachsende vom Trauma der Bombennnächte, Häuserkämpfe, Beschießung, Flucht, Hunger, Vertreibung, Chaos, Gewalt und Vergewaltigung von Schwestern und Mütter besessen waren. Krieg war bei ihnen deshalb untergründig besetzt mit Angst und Entsetzen, aber auch mit einer heimlichen Faszination. Im Protest gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam kamen 1967/68 beide Seiten in Gestalt eines "militanten Pazifismus" zum Tragen, der die Quelle werden sollte für Gewaltbereitschaft und Entscheidungsfähigkeit in den Reihen der Rebellen. Aus diesem Denken speisten sich die Partisanen- und Revolutionsgruppen jener Zeit. Der fünfzigjährige Frieden, der erkauft wurde durch den "Kalten Krieg", hat vor allem bei den folgenden Generationen nachgewirkt als ein Zeitalter der Projektionen und Identifizierungen. Der Systemwettbewerb zwischen Ost und West und die ideologischen Mobilisierungen gegen den "Feind" prägten das Denken, das die Widersprüche nicht mehr aufnahm, sondern von dem abstrakten "Entweder-Oder" lebte. Die neuen Generationen erfuhren Gesellschaft in der Zweiteilung von gut und böse, denn sie fanden keine Gelegenheit, für die eigene Generationsidentität zu streiten und bewegten sich deshalb im Schatten von 1968 und folgten gleichzeitig den ideologischen Mustern, die die Propagandabilder der verfeindeten Großmächte nachspielten. Links oder rechts eingestimmt, kennt dieses Denken heute keinerlei Toleranz und es sperrt sich dagegen, daß der Widerpart Bestandteil der eigenen Anschauungen sein könnte. Die Versuchung der Extreme wird verleugnet und die Tatsache unterschlagen, daß in allen Gutwilligkeiten auch das Gegenteil existiert: Haß und Aggression und daß diese vollkommen unvermutet zum Vorschein kommen können.

Für die beiden Deutschlands bedeutete diese Friedensepoche die jeweilige Einbindung in die Blöcke von NATO oder Warschauer Pakt. Die Hegemonie der Großmächte ging soweit, daß die Politiker der DDR kaum oder nur partiell über den Status der Kollaboration mit der Militär- und Besatzungsmacht UdSSR hinauskamen, aber auch im Westen bestimmten die USA die Politik und Rüstung der NATO und waren als Besatzungsmacht immer auch Ordnungsmacht, selbst wenn eine Einmischung in die Politik von Staat und Parteien nicht direkt erfolgten. Westberlin bildete in der Hinsicht die Ausnahme, daß bis 1991 das alliiertes Besatzungsrecht galt. Immerhin gewährte diese Konstellation den Frieden und sie erlaubte den Zusammenbruch des östlichen Gesellschaftssystems, ohne daß es zu Krieg und Bürgerkrieg kam.

Danach war alles anders. Die deutsche Einheit wurde als Übertragung der bundesrepublikanischen "Grundordnung" auf die neuen Bundesländer gewährleistet. Sie fand die Zustimmung der Groß- und Westmächte und gleichzeitig verließen Rote Armee und die alliierten Truppen das Land. Deutschland schien zum ersten Mal nach 1945 die volle Souveränität zu besitzen. Jedoch brachten die Einbindung in die politische und wirtschaftliche Union Europas und die Neudefinition der NATO neue Abhängigkeiten, aber auch Perspektiven von Großmacht. Nur partiell wurde sichtbar wie die neue europäische Ordnung aussah. Der stellvertretende amerikanische Außenminister, Strobe Talbott, gewährte in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5. Februar 1999 Einblicke in die Definitionsmacht der USA und in die Zielsetzung der Geheimdiplomatie zwischen den einzelnen Mächten. Er machte deutlich, daß die globalen Anforderungen eine "euro-atlantische Gemeinschaft" erforderlich machten, die ein enges Zusammengehen von USA und Europa in der Weltpolitik bedeuteten. Deshalb wurden Europa und hier die einzelnen Staaten und vor allem die Bundesrepublik neu definiert. Sie mußten Ordnungsaufgaben übernehmen, die bisher die Sowjetunion oder die USA wahrgenommen hatten. Das Aktionsfeld erweiterte sich für Europa nach Osteuropa und Rußland, nach Südosteuropa, Kleinasien, Naher Osten und Nordafrika. Da die grundlegende Militärmacht Deutschland stellte, solange sich Frankreich dem NATO-Kommando entzog und solange England Sonderverpflichtungen gegenüber den Commenwealth- Staaten hatte, kamen auf die Bundeswehr Aufgaben zu, auf die diese "Friedensarmee" bisher nicht vorbereitet war. Die Bundesrepublik, ein "Epizentrum dieser Prozesse - Erweiterung und Expansion, Ausdehnung und Vertiefung-", mußten diese Neudefinition von Außen- und Militärpolitik durch eine neue Koalition von Sozialdemokraten und Grünen durchstehen. Nach Talbott schien diese Herausforderung des neuen Regierungsbündnis schon deshalb bedeutsam zu sein, weil diese ehemalige Friedensopposition nun in die Verpflichtung genommen wurde, an der neuen Ordnung teilzuhaben.

Wie sah diese nun für das neue Europa aus? Die NATO durfte auf keinen Fall abrüsten. Sie mußte ihre Fähigkeit der Abschreckung aufrechterhalten und gegen die Länder intervenieren können, die aggressive Handlungen vornahmen, die man als "klassische Aggression bezeichnen" konnte. Solch ein Satz war interpretierbar. Rußland konnte eine derartige Aggressionsmacht werden, falls die Atomwaffen nicht vernichtet oder weitergegeben wurden bzw. eine neue Regierung sich bildete, die stärker die geopolitischen Ziele Rußlands verfolgte. Aggressionsmächte waren nach dieser Definition Rußland, Jugoslawien, Irak, Iran, Syrien und Algerien, falls der Fundamentalismus sich in diesen Ländern ausweitete. Das konnten viele Kriege sein, auf die Deutschland im Namen der NATO sich einließ. Die "transatlantische Solidarität" umschrieb Talbott so, daß die NATO bestimmte Interventionsfelder der USA übernahm und arbeitsteilig zuständig war für den Landkrieg. Die nordamerikanische Großmacht würde über Flugzeugträger, Bomber und Raketen in das Kriegsgeschehen eingreifen, während Europa die Bodentruppen schickte, um so etwas vorzunehmen wie Eroberung, Besetzung und Neuordnung. Ein "Vietnam" konnte sich für die USA nicht wiederholen, denn sie operierten im Sternenkrieg, während die anderen primär die Interventionsmacht bildeten. Da die USA sich nicht an Völkerrecht oder UN-Mandat halten würden, wie die Irak-Einsätze zu Beginn des Jahres 1999 belegten, waren Kriege und Eingriffe zu erwarten, die außerhalb internationaler Verträge abliefen.

Nach Talbott war die Definition von "Aggression" ausdeutbar, denn es konnte Herausforderungen geben, die Einsätze erforderten, die außerhalb der NATO-Abmachungen lagen (Artikel V des Washingtoner Vertrages). Die NATO mußte einsatzfähig sein, um den internationalen Terrorismus zu bekämpfen, der umgekehrt auch in den deutschen Städten wirksam werden konnte und sie mußte den internationalen Waffenhandel unterbinden. Es kamen NATO-Einsätze in Frage, die außerhalb Europas lagen, aber auch die Zentraleuropa erfaßten, soweit der "Gegner" über Partisanenverbände und Volksteile Zugriff hatte auf die europäischen Regionen. Der zukünftige Krieg besaß die unterschiedlichen Facetten von Landkrieg, Besetzung, Luftkrieg, Raketenschlag, Partisanenkampf, Bürgerkrieg, die alle keine eindeutigen Fronten und Grenzen mehr kannten "Wir sind der Ansicht, daß die Einsätze und Aufgaben der NATO immer mit den Prinzipien der Vereinigten Nationen und der OSZE übereinstimmen müssen. ... Gleichzeitig müssen wir darauf achten, die NATO keinem anderen internationalen Gremium unterzuordnen oder die Integrität ihrer Befehlsstruktur aufs Spiel zu setzen. ... Das Bündnis muß sich das Recht und die Freiheit vorbehalten, immer dann zu handeln, wenn seine Mitglieder es im Konsens für notwendig erachten". Ähnlich wie für die USA sollten auch für die NATO internationale Verträge und Institutionen nicht verbindlich sein, sondern die Kriegsform bestimmte den Eingriffscharakter. Für Kosovo und Jugoslawien wurde diese Intervention durchgespielt. Bombardements und Besetzung dieser Gebiete durch die NATO eröffneten für die Serben einen Partisanenkrieg, der nicht nur in Südosteuropa geführt werden würde, sondern der auch sein Echo finden würde in den europäischen Großstädten, wo serbische Völkerschaften seit 'zig Jahren lebten. Europa trudelte in ein "Vietnam" hinein, das die USA allerdings primär aus der "Luft" her wahrnehmen würden. (Milutinovic in der FAZ vom 15. Februar)

Diese Umorganisation von Bundeswehr, Bundesgrenzschutz und Landespolizei oblag nun Sozialdemokraten und Grünen, die bis dato das Gerüst der Friedensbewegung gestellt hatten. Durch die Einbindung dieser Friedensfreunde in die Auf- und Umrüstung der NATO war keinerlei Opposition gegen eine derartige Kriegspolitik zu erwarten, weil gerade die Organisatoren eines möglichen Protests in die Regierungsverantwortung gezogen und mit lukrativen Stellen bedacht worden waren. Ganz anders als die konservative Regierung, die in der Person des Verteidigungsministers Rühe immer betont hatte, daß deutsche Truppen nicht in Regionen geschickt werden sollten, wo vor 1945 die Wehrmacht gekämpft hatte, drängten viele grüne Politiker darauf, in Bosnien und in Kosovo zu intervenieren, um den Bedrängten beizustehen und den "Menschenrechten" Geltung zu verschaffen. Da kein Wissen mehr bestand über den brutalen Partisanenkrieg in Jugoslawien zwischen 1941 - 1945, sollte die Bundeswehr in einen Verschleißkrieg gebracht werden, wo es keinen "Sieger" geben konnte. Ein abstrakte "humanistische Mission" deckte alle Probleme von Krieg und Partisanenkampf zu und unterschlug zugleich, ob die Bundeswehr und die deutsche Bevölkerung auf einen derartigen verlustreichen Zweifrontenkrieg hier und dort eingestellt war?

Wie wirksam die alte Friedensbewegung in der Bundesrepublik war, belegten die Beobachtungen des amerikanischen Verteidigungsministers McNamara in den sechziger Jahren. 1965 waren die USA stark daran interessiert, daß deutsche Truppen nach Vietnam gehen sollten. An einige 'zig Tausend Mann wurde langfristig gedacht, die Seite an Seite mit den US-Truppen für die "Freiheit" kämpfen sollten. Johnson sagte gegenüber dem damaligen Bundeskanzler Erhard im Dezember 1965, daß die Bundesrepublik Amerika das zurückgeben konnte, was sie den Amerikanern verdanke: die Befreiung von der NS-Diktatur und die Begründung einer neuen Demokratie. McNamara forderte im Januar 1966 deutsche Bodentruppen. Vertreter der Bundesregierung warnten, daß die Republik durch die Teilung Deutschlands, aber vor allem durch den II. Weltkrieg in den Miltärhandlungen begrenzt sei. Es gebe innerhalb der Jugend einen latenten Pazifismus. Außerdem würde ein Einsatz der Bundeswehr in Vietnam die Lage in Mitteleuropa verschärfen, weil dieser deutschen Armee Aggressionsgelüste unterstellt werden würden. Es wurde darauf hingewiesen, daß der Artikel 26 GG, der besagte, daß "Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten", der Bundeswehr verbieten würden, irgendwo auf der Welt zu intervenieren. Außerdem war diese Armee als Verteidigungstruppe gar nicht in der Lage, in den Subtropen einen Antipartisanenkrieg zu führen. Trotzdem hätte der NATO-Vertrag die Bundeswehr verpflichtet, in den ostasiatischen Krieg zu ziehen, denn Artikel 5 dieser Abmachung besagte, daß bei einem "bewaffneten Angriff" auf einen Mitgliedstaat alle Staaten des Bündnisses verpflichtet waren, diesem militärisch zu Hilfe zu kommen. Die Einmischung der USA in Vietnam wurde als Angriff des Vietcong auf die USA gedeutet. Gerade deshalb machten die USA Druck auf die Bundesregierung. Trotzdem erfolgte der Einsatz der Bundeswehr in Vietnam nicht. "Und mit dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg bei den Demonstrationen gegen den Schah-Besuch am 2. Juni 1967 in Berlin kippte die Stimmung ohnehin endgültig um. Jeder Gedanke an eine über humanitäre Hilfe hinausgehende Unterstützung Amerikas in Vietnam war fortan innenpolitisch nicht mehr durchzusetzen." (Mathias Peter, Harald Rosenbach: Deutsche Grenadiere nach Vietnam?, FAZ vom 24. April 1977). Damals entstand eine Friedensbewegung, die bei allen ideologischen und politischen Mutationen bis in die neunziger Jahre nachwirkte und verhinderte, daß die Bundeswehr im Schatten der USA andere Aufgaben als die der Verteidigung wahrnahm. 1999 wurde nun alles anders, weil die Politiker aus SPD und Grünen diesen Pazifismus überwanden und auf die Karte der wirtschaftlichen und militärischen Expansion setzten. Erst dadurch waren neue Kriege in Sicht, an denen Deutschland an hervorragender Stelle beteiligt sein würde.

Krieg und Bürgerkrieg in Zentraleuropa

Revolutionen, Bürgerkriege und Kriege in den unterschiedlichen Regionen der Welt haben und hatten ihre Ursache in den rückständigen Verhältnissen von Entwicklung, Deindustrialisierung, Übervölkerung und Radikalisierung. Den großkapitalistischen Globalmächten gelang es nicht, die einzelnen Entwicklungsländer in Industrialisierung und Wohlstand einzubeziehen. Der Zusammenbruch der Staatswirtschaften im Osten verschärfte die Verelendung. Gegen die westlichen Werte von Liberalismus, Sozialismus, Sozialstaat und Markt machte ein religiöser Fundamentalismus mobil, der nicht selten durchsetzt war von Nationalismus, Rassismus, aber auch von den Ideen einer nationalen und sozialer Befreiung. Die alten Schichten und Statthalter westlicher oder staatskapitalistischer Interessen konnten dem Aufstand der Massen nur durch Terror, Vertreibung und Krieg begegnen.

Aktuell sind etwa 30 Millionen Menschen auf der Flucht. Ihr Ziel sind die reichen Staaten Zentraleuropas oder Nordamerikas. Nur wenige der Verzweifelten und Bedrängten können sich bis in diese Gebiete durchschlagen. Hier bilden sie die große Reserve- oder Überschußarmee der schlecht ausgebildeten und mangelhaft qualifizierten Arbeitskräfte, die kaum gebraucht werden und die deshalb in den reichen Ländern die Paupers, Unterbezahlten, Sozialhilfeempfänger und Elenden stellen. Sie haben alle gute Gründe, einen Asylantrag zu stellen und im Land zu bleiben. Sie leben in den großen, europäischen Städten. Da ihr Einkommen im Verhältnis zum europäischen Durchschnittsverdienst gering ist, können sie sich keine teuren oder komfortablen Wohnungen leisten und so landen sie in den städtischen Problembezirken. Die Dritte Welt hält Einkehr in den Metropolen.

Deutschland wird zum wichtigsten Einwanderungsland unter den Industrieländern. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung, nimmt Deutschland ein Vielfaches an Zuwanderern auf als die klassischen Einwanderungsländer USA, Kanada oder Australien. Selbst die Änderung des Asylrechts 1993 hat diesen Zuzug nicht stoppen können, weil trotz der fast 90-prozentigen Ablehnung der Asylanträge der Aufenthalt der Antragsteller in Deutschland gestattet wird. Sie haben auch das Recht auf Sozialhilfe, so daß sich die Einreise der Armen der Welt immer lohnt, wenn sie die vielfältigen Grenzbarrieren übersteigen können. Sie erwerben in Europa ein Vielfaches des Lebensstandards ihrer Heimatländer. Der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung wird allerdings statistisch nur ungenügend erfaßt. Die Zahl der "Illegalen" in deutschen Landen ist nur grob schätzbar. Die Schätzungen schwanken zwischen einer und vier Millionen. Die "regulären" Ausländer umfassen etwa fünf Millionen. Weitere Millionen werden gezählt als Asylbewerber, Asylberechtigte einschließlich ihrer Familien, Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge, Kontingentflüchtlinge, Staatenlose. Zwischen sieben und zehn Millionen Ausländer ohne deutschen Paß leben in Deutschland und haben längst die 10-Prozent-Marke als Anteil an der deutschen Bevölkerung überschritten. Das ganze Problem von Elend und Reichtum in der Welt wird nun auf die europäischen Städte konzentriert. Bereits heute liegt der Ausländeranteil in diesen Städten zwischen 20 und 30 Prozent und er steigt rapide. (iwd, hrsg. vom Institut der deutschen Wirtschaft, Nr. 35/97 vom 28. 8. 19997, S. 7)

Für das Jahr 2010 prognostiziert die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages einen Anteil von rund 25 Prozent Ausländern an der Bevölkerung. In bestimmten Stadtgebieten wird dieser Anteil sich der 100 Prozentmarke annähern. Für das Jahr 2050 wird ein Anteil zwischen 38 und 45 Prozent prognostiziert, falls die Zuwanderung die aktuelle Rate beibehält. Vor allem Kinder und Jugendliche werden ausländische Eltern haben. Bereits heute sind 51 Prozent der Ausländer zwischen 14 und 40 Jahren alt. Diese Lebensspanne wird nur von 36 Prozent der Deutschen gestellt. Die Grenze der ethnischen Absorption ist für Schulen und Bildung erreicht, vor allem wenn primär diesen Institutionen die Aufgabe der "Integration" zugemutet wird. Von deutscher Seite entstehen Fluchtbewegungen aus den multikulturellen Schulen, Häusern, Straßen und Wohngebieten. Der Konkurrenzkampf zwischen ausländischen Paupers und deutschen Unterschichten in Sozial- und Arbeitsämtern nimmt neue Formen an. (Enquete-Kommission Demographischer Wandel, "öffentliche Anhörung am 11. November 1996, S. 6)

Nun erzeugt diese massive Einwanderung sicherlich staats- und bürgerrechtliche bzw. sozial- und arbeitsrechtliche Probleme, trotzdem wäre sie integrierbar, falls diese Quantität nicht jeden Rahmen des Sozialstaates und des friedlichen Zusammenlebens der Bevölkerung sprengen würde. Sie wird zu einem "kriegs- und bürgerkriegsartigen Phänomen", kommen Volksteile aus aller Welt nach Zentraleuropa, die aus religiösen und politischen Gründen keine Integration in das feindliche Milieu einer westlichen Zivilisation dulden und die sich außerdem in religiösen Gemeinschaften, Parteien, Gruppen und Partisaneneinheiten organisieren bzw. von diesen organisiert und erfaßt werden, die die Kämpfe und Bürgerkriege ihrer Herkunftsländer auf die asylgewährenden Länder übertragen. Derartige Volksteile als Rekrutierungsfeld sozialer und nationaler Konflikte kommen heute aus den kurdischen Provinzen der Türkei, aus dem Kosovo, Bosnien, Nahost, Algerien, Marokko, Iran, Afghanistan, Pakistan, China, Vietnam, Sri Lanka, Georgien, Armenien, Kasachstan usw. Durch die Orientierung auf Krieg und Bürgerkrieg sind auch die anderen Kriegsparteien involviert. Wenn Teile der kurdischen, albanischen, bosnischen, algerischen und palästinensischen u. a. Völkerschaften und Nationen, die in Zentraleuropa Unterschlupf gefunden haben, sich über ihre Bürgerkriegsparteien organisieren lassen, dann sind auch die Kriegsgegner indirekt einbezogen: die jeweiligen Staaten, Gegner und feindliche Völker und ihre Geheimdienste, Parteien und Guerillaeinheiten. Die Kriegskonstellation dort wird in Zentraleuropa reproduziert. Schon aus diesen Gründen wird die NATO verpflichtet sein, sich auf den inneren und äußeren Krieg einzustellen, denn jede NATO-Intervention in den anderen Ländern wird sofort Widerstand in den europäischen Städten provozieren. Kriege in Jugoslawien, Nahost, Rußland oder Nordafrika sind zugleich Partisanenkriege in Europa. Vor allem die Bevölkerung ist auf eine derartige Verschärfung des Einwanderungsproblems nicht vorbereitet, aber auch Polizei und Bundesgrenzschutz sind bisher überfordert, sich auf die neuen Formen von Stadtkrieg einzustellen.

Die PKK-Unruhen in den deutschen und europäischen Städten im März 1994 und im Februar 1999 bieten Beispiele dafür, daß die fremden Kriege nach Europa übertragen werden können. Die PKK als Transformationssystem von Kader- und Massenorganisationen, hierarchisierter Partei- und Kriegsstab, von legalem und illegalem Kampf, von Befreiungsarmee in der Türkei und Rekrutierungs- und Mobilisierungskraft in Europa, Propaganda und Terror nach innen und außen, stellt einen Prototyp einer doppelten Staatsgründung dar, die die PKK als Kriegspartei in den Operationsgebieten Kleinasien und gleichzeitig in Zentraleuropa vollzieht. In dieser Hinsicht ist sie Vorbild und Beispiel für andere Kriegsparteien in Zentraleuropa, etwa für die kosovo- albanische Befreiungsarmee UCK, die algerische FSI/GIA, die afghanischen Taliban-Krieger u. a.

Staatsgründung soll heißen, daß die Partisaneneinheiten sich gegen den bestehenden Staat stellen und über ihren Kampf befreite Gebiete schaffen, in denen neue Gesetze und Verhaltensnormen, kurz die neue Autorität von Macht und Recht gelten. Der Partisanenkampf dient der Niederringung des dominierenden Machtapparates und stellt gegen diesen einen neuen Staatsapparat, dessen Keime in der Partisaneneinheit und in dem neuen Staatsgebiet liegen. In Europa nun bieten die Stadtteile und Regionen sich an, wo die Mehrheit der Völker leben, die in diesen Bürgerkrieg verwickelt sind, in quasi befreite Gebiete verwandelt zu werden, gelingt es den Partisanen, dort Propaganda zu machen, große Teile der Bevölkerung auf die Ziele des Krieges einzuschwören, Steuern einzutreiben, Rekruten auszuheben und eine neue Ordnung zu schaffen. Die befreiten Gebiete in den Bürgerkriegsländern und in Zentraleuropa bilden dann trotz der geographischen Entfernung eine innere Einheit von "Staat". Diese Staatsgründungen verkörpern eine Form der "Besetzung" europäischer und auswärtiger Gebiete.

Wiederum kann die PKK als Beispiel dienen. Der Ursprung ihrer Organisation und Ideologie entstammte der maoistischen Variante von Marxismus-Leninismus und war eingeschworen auf die nationale Befreiung der Kurden von türkischer Vorherrschaft. Die Partei war von Anfang an antifeudalistisch und antitraditionell ausgerichtet, weil hier nicht die Stammesführer oder Clans dominierten, sondern eine proletaroide, kurdische Intelligenz, die als eine erste Generation an türkischen oder europäischen Hochschulen ausgebildet worden war und nun auf der Anerkennung der kurdischen Kultur, Sprache und Autonomie bestand. Rekrutiert wurden für die Partei kurdische Arbeiter, die real so etwas waren wie vertriebene Kleinbauern, Landarbeiter, Tagelöhner, eben "Werktätige", die als Exilanten in die türkischen Städte und später nach Europa getrieben wurden. Ihre Interessen oder Unsicherheiten wurden organisiert und zugleich der kulturelle Zusammenhalt gestärkt. Dieses Bündnis aus Intelligenz und werktätigen Paupers war auf die Energie der Jugend, der jungen Frauen und Männer angewiesen und gab ihnen wiederum Selbständigkeit und Anerkennung. Indem Frauen und Jugendliche die volle Akzeptanz fanden, verkörperte diese Partei gleichzeitig Widerstand, Entwurzelung, Vertreibung, Neuanfang und wurde von der Radikalität von Schichten, Generationen und Geschlechtern getragen, die traditionell bisher keinerlei Anerkennung gefunden hatten. Mit der Radikalisierung des Islams hin zu einem sozial geprägten Fundamentalismus gewann auch die ML-Ideologie der PKK islamisch religiöse Züge über politische Glaubensartikel (Suren), Führer- und Personenkult, die letztlich der Hierarchisierung und Disziplin der Partei dienten. Erst dadurch wurde sie fähig, einen Partisanenkrieg in der Türkei zu führen und gleichzeitig in Europa sich aufzubauen als Interessenpartei der kurdischen Minderheit und Vertriebenen.

Heute koordinierten der Generalsekretär, das Zentral- und Exekutivkomitee die nationale Befreiungsfront Kurdistans und deren Volksbefreiungsarmee. Die Führungsgewalt lag beim Stab des Generalsekretärs Abdullah Öcalan. Die Zentren dieser Führungsmacht lagen in Syrien und in Brüssel. In Europa agierte ein europäisches Zentralkomitee und eine europäische Frontzentrale, die durch den Führungsstab des Generalsekretärs koordiniert und befehligt wurde und die sich in 12 Sektoren, Interventionsgebieten, aufgliederten, die wiederum nach Regionen aufgeteilt waren. In Deutschland bestanden 7 Regionen mit ca. 33 Gebieten, denen die Massenorganisationen zugeordnet waren: die Föderation Kurdischer Vereine, Studenten-, Jugend-, Frauen-, Juristen-, Arbeiterbund u. a. Die PKK besaß eine zentrale Befehlshierarchie, die zugleich den zivilen und den militärischen Bereich bestimmte und trennte. Zum Frontbereich gehörten auch die Rekrutierungsbüros für neue Kämpfer, die Steuereintreiber und der Sektor der Geschäfte und Bankoperationen. Die PKK bestand nach dem Verbot dieser Partei in Deutschland aus den weit gefächerten illegalen und den halblegalen Bereich der Kulturvereine. Alle Bereiche, Fronten und Ebenen waren über E-Mail, Telefonsysteme vernetzt und verkabelt, agierten jedoch verschlüsselt, um den europäischen Sicherheitsbehörden keinen Zugriff zu erlauben. Die PKK betrieb auch einen Fernseh-Sender, MED-TV, der über Satellit sendet und seinen Hauptsitz in London hat. In der Nähe des europäischen Hauptquartiers der Partei und des kurdischen Exilparlaments, auf das die PKK einen großen Einfluß hat, in Brüssel, betrieb bis Februar 1999 die Redaktion des Senders Propaganda und rang um eine kurdische Identität im Exil. Der Sender strahlte seit 1995 Sendungen in den vier kurdischen Dialekten und erreichte etwa 30 Millionen Kurden allein in Europa. Die PKK konnte kurzfristig auf Kampfkomandos in den einzelnen Gebieten zurückgreifen und entsenden, um Besetzungen oder Angriffe vorzunehmen; sie war aber auch fähig, große Demonstrationen zu organisieren, die die europäischen Innenstädte, Autobahnen, Zufahrtswege und strategische Orte blockierten. Ihr Einfluß auf die kurdische Bevölkerung in Europa war relativ stark, obwohl etwa nur 20 Prozent sich in die direkten Aktivitäten der Partei einbeziehen ließen. Die Spendenbereitschaft für die PKK war relativ hoch. Die Geldsumme kann jedoch nur geschätzt werden. Jährlich kommen zwischen 30 und 100 Millionen DM zusammen. Der Krieg in der Türkei wurde durch Spenden und Steuern in Europa finanziert, hatte allerdings auch "dritte" Interessierte und Geldgeber, die die Lage in der Türkei ausnutzen wollten wie etwa Syrien, Irak oder Iran oder die interessiert waren an der Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus wie Lybien oder Pakistan. (Spiegel, Nr. 8, Februar 1999, Focus vom 28. März 1994)

Das Beispiel PKK sollte verdeutlichen, daß die anderen Völker, Parteien und Partisanen in Zentraleuropa sich ähnlich organisieren und diese Dopplung von Krieg und Mobilisierung organisatorisch bewältigt haben. Dadurch gewinnen die Bürgerkriegsparteien innerhalb der Zuwanderer nach Europa neue Bedeutung. Sie organisieren die Interessen der Exilanten, geben ihnen Bewußtsein, kulturellen Halt und manifestieren zugleich, daß sie in Feindesland leben und daß es schandhaft ist, sich in dieses dekadente, westliche Leben hineinzubegeben. Für die vielen Paupers und Entrechteten bildeten sie immer auch Interessenorgan, um ihre Rechte auf Asyl, Sozialhilfe, medizinische Versorgung usw. einzuklagen. Dieser Einfluß ist vorerst nur bei den islamischen Einwanderern vorhanden, gewinnt jedoch an Ausstrahlung auf andere Völker. Die Einwanderer blieben oder wurden im Sinne von Georg Simmel und Max Weber "Fremde". Sie kamen als Reisende, blieben aber im Land und sie verkörperten nicht nur eine andere Kultur, sondern Werte und Verhaltensweisen, die nicht mit der europäischen Kultur harmonisierten. Deshalb würde es auch keine "Integration", sondern bestenfalls ein Nebeneinander, Konkurrenz oder Gegnerschaft geben. Die klassische Soziologie diskutierte bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts den Stellenwert der westlich kapitalistischen Werte im Gegensatz zu anderen Kulturen und die Schwierigkeiten ihrer Koexistenz in Zentraleuropa; Max Weber in seinen Vorbemerkungen zu den Aufsätzen zur Religionssoziologie und Georg Simmel in den Nachdenklichkeiten über den "Fremden".

Durch derartige Entwicklungen und Zuspitzungen war die Ghettoisierung der großen Städte Einfalltor für illegale und unkontrollierbare Zuzüge der Fremden, denn solche Stadtteile waren nicht mehr durch die europäischen Behörden kontrollierbar. Wurde diese Gestalt der Ghettoisierung als "Landnahme" durch fremde Kulturen in den bevölkerungspolitischen Zusammenhang gestellt, daß in den nächsten fünfzig Jahren die deutsche Einwohnerschaft auf etwa fünfzig Millionen zusammenschmelzen würde und gleichzeitig rund um Europa mit einer Bevölkerungsexplosion von etwa dreihundert bis vierhundert Millionen Menschen zu rechnen war, dann bildete Zentraleuropa langfristig eine Art Bevölkerungsvakuum, in das diese auswärtigen Völker vorstoßen würden. Die Jahrzehnte einer europäischen Kultur waren gezählt und sie würde einer multi-ethnischen Koexistenz weichen, in der die europäische Kultur eine Minderheitenkultur unter anderen werden würde. Friedlich würde das Zusammenleben kaum werden, weil Armut, Arbeitslosigkeit, Lebenshaltung usw. die einzelnen Völker auseinanderrissen. Die europäischen Gesellschaften verloren nicht nur mit ihrer kulturellen Identität die Werte von Gerechtigkeit, Rechts- und Sozialstaat, Freiheitsrechten, sozialistischen Utopien, die europäischen "Urvölker" mußten sogar um ihre Selbstbehauptung gegen Kulturwerte kämpfen, die derartige Rechtsnormen nicht kannten und auch nie akzeptieren würden. (Rolf Stolz: Probleme der Zuwanderung...,in: Aus Politik und Zeitgeschehen, 49/98, S. 17; Professor Dr. Herwig Birg: ein zweifaches Tabu, in: FAZ, 24. 2. 1998, S. 11)

Ein derartiges "Szenario" mußte Gegenstand der unterschiedlichen "Revolutionstheorien" werden. Nicht mehr das "Proletariat", der deutsche Facharbeiter oder Angestellte, war Subjekt und Endpunkt des Geschehens, sondern es bot sich an, die Paupers und Elenden, die Exilanten und Neubürger zum Geschichtsbeweger zu erheben, waren sie doch gegen die Schichten der alten europäischen Völker aufzubringen, die noch Arbeit, Wohlstand und Privilegien besaßen. Bündnisse konnten geschmiedet werden zwischen den unterschiedlichen Radikalparteien der einzelnen unterdrückten Völker, aber auch mit einer proletaroiden deutschen Intelligenz, die endlich ihren Traum von Diktatur und Fortschritt erfüllen konnte. Stadtguerillaeinheiten konnten sich bilden, die nun eine multikulturelle Befreiungsarmee bildeten, die teils legal, teils illegal durch die Stadtteile patrouillierte, weil deutsche Sicherheitskräfte und Wachdienste sich längst zurückgezogen hatten. Sie fanden jetzt die Zustimmung der Beleidigten und Entrechteten. Umgekehrt schwärmten nun auch die rechtsradikalen Gruppen und Parteien von einem letzten Gefecht, um all die Ausländer aus dem Land zu treiben. Ein neuer Genozid wurde herbeigeredet. Endzeitstimmung war angesagt. Es war also zu erwarten, daß diese Zuspitzungen keine friedliche, humane und demokratische Lösung fanden, sondern die einzelnen Kontrahenten in den Bürgerkrieg taumelten. Aber wieso konnten die politischen, kulturellen und Bildungseliten und auch die "Meinungsmacher" der Medien keinen Einfluß nehmen, diese Fragen öffentlich zu stellen? Wieso blieben Zuwanderung, Ghettoisierung, Zerfall der kulturellen und staatlichen Einheit Tabuthemen? Warum konnte nicht darüber gesprochen werden, daß die europäische Entwicklungs- und Einwanderungspolitik gescheitert war, daß die Weltbürgerkriege nach Europa Einzug hielten und daß die NATO-Politik keinerlei Frieden brachte? Wieso wurde nicht über die bevölkerungspolitischen Konsequenzen geredet, daß Lebensform, Egoismus und Praßsucht gerade der europäischen Mittelschichten zum Ab- und Aussterben der europäischen Völker führten und umgekehrt der Bevölkerungsdruck außereuropäischer Völker den demoskopischen Zustand Europas in naher Zukunft verändern mußte? Wie waren diese Tabus und Denkhemmungen der Meinungsmacher und der Kulturintelligenz zu verstehen?

Auf Friedenswacht

Im Bundestag wurde Ende Februar 1999 der Bundeswehreinsatz im Kosovo beschlossen. Bei SPD und Grünen gab es nur wenige Gegenstimmen. Lediglich die PDS verweigerte sich dem Antrag und stimmte geschlossen dagegen. In der Debatte über diese Abstimmung wurde zwar viel über Menschenrechte geredet, jedoch kein Wort darüber verloren, daß die deutsche Wehrmacht in diesen Gebieten zwischen 1941 und 1945 einen äußerst verlustreichen Krieg geführt hatte. Es wurde auch nicht erwähnt, daß die jugoslawische Volksarmee dieser Tradition von Partisanenkampf bis heute verpflichtet blieb. Interessant wäre auch gewesen, darüber zu sprechen, warum aus dem Führungszentrum des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens chauvinistische und völkische Fraktionen entstanden, die im Auflösungskrieg dieses Vielvölkerstaates die nichtserbischen Nationen mit Gewalt, Terror und Massenerschießungen bedrohten und zur Flucht trieben. Kein Wort darüber wurde gesagt, daß Jugoslawien auf ein Selbstbestimmungsrecht der Serben beharrte und die Albaner als "geschichtsloses" Volk behandelte. Diese jugoslawische Selbsteinschätzung nahm alle Probleme eines liberalen und integralen Nationalismus auf, die bis 1945 die west- und osteuropäischen Völker in ihrem nationalen Befreiungskampf gegen die deutsche Okkupationsmacht bestimmt hatten und die heute vor allem in Osteuropa wieder aufscheinen. Nach dieser Sicht klagten die westeuropäischen Mächte über die NATO ihre Hegemonie gegen die vielen Sonderinteressen der osteuropäischen Völker ein. Der Krieg gegen Jugoslawien wurde als ein Vorbereitungskrieg gegen Rußland gesehen. Die Reden über die "Menschenrechte" im Westen waren nach dieser Interpretation lediglich Vorwand, die Selbstbestimmung und die Wiedergeburt dieser Völker zu verhindern. Das mochte alles großserbische Propaganda sein, trotzdem wäre es gut gewesen für die deutsche Politik, bei diesem grundlegenden Kurswechsel zumindest die Einwände zur Kenntnis zu nehmen.

Im Bundestag verfolgte die PDS die Linie des alten "Antiimperialismus", der der NATO imperialistische Ziele in Jugoslawien nachsagte. Der neue Außenminister redete bereits im Jargon dieses Militärbündnisses von einem "offensiven Frieden". Woher kommt nun dieses Umdenken in den Reihen von SPD und Grünen? Ist es nicht eine ästhetisierte Form des alten "Lagerdenkens", das jetzt allerdings noch verfremdet wird durch die Lebenslust und den Hang der Selbstinszenierung einer "Neuen Mitte"? Gibt hier nicht die Generation der Vierzig- und Fünfzigjährigen, der Aufsteiger und politischen Lotteriegewinner zu erkennen, daß ihre Zeit gekommen ist und daß sie solange tanzen wollen, solange die Titanic noch nicht gesunken ist? Oder was bewegt diese Politiker, Meinungsmacher und Kulturintelligenz noch? Sicherlich hat auch in der Bundesrepublik die parlamentarische Demokratie alle ihre Kräfte der Selbstzerstörung entfaltet: Korruption, Vetternwirtschaft, Cliquen, Klüngel, Bürokratismus, Postenjägerei, Inszenierungen, Skandale. Es fehlt offenbar das Gegengewicht anderer Macht- und Herrschaftsformen, die dieser Zerstörung Einhalt gebieten könnten: Wirtschaftsdemokratie oder Mitbestimmung, plebiszitäre Formen der Kontrolle, Rechtsstaat, exekutive Verantwortung. Aber dieser Substanzverlust einer parlamentarischen Demokratie blockiert Parteien und Verbände, in einer krisenhaften Situation auf die politische Willensbildung eines Volkes Einfluß zu nehmen. Statt dessen wirkt das historische Gewicht, die Machtpositionen der Vergangenheit zu stabilisieren. Politik wird gemacht aus dem Selbstbewußtsein des Alten und das lebt in Deutschland aus den Prämissen des Sozialstaates und des Bündnisses der Parteien und Verbände. Max Weber und Robert Michels beschrieben diese "Selbstzerstörung" der Parteien, die nach 1945 auch Themen wurden von Ernst Fraenkel und Otto Kirchheimer. Nach 1968 diskutierten Agnoli, Brückner, Narr, Habermas u.a. diese problematische Herrschaftsform, die allerdings keine Alternativen kennt.

Die "Neue Mitte" war außerdem geprägt worden durch den "Kalten Krieg", der in ihrem Denken eine subtile Verarbeitung erfuhr. Den hatte zwar wirtschaftlich der Westen gewonnen, ideologisch hatte der Gegner obsiegt. Gegen den westlichen Staat wurde das bessere Deutschland gestellt, das in der DDR heranwuchs und das sich eindeutig gelöst hatte von der NS-Vergangenheit. Nach dieser Sicht trieb die deutsche Geschichte auf die Massenvernichtung der osteuropäischen Völker, Zigeuner und Juden durch das NS-System zu und die folgende Geschichte war nach dem Maßstab dieser Verbrechen zu messen. Die Zerstörung der Vernunft begann im romantischen Denken des 19. Jahrhunderts und fand seine Fortsetzung in der Epoche nach dem großen Morden. Alles Denken, das nicht diesen Vorgaben folgte, war suspekt und potentiell "faschistisch". Der Antifaschismus der Ost- und DDR-Propaganda hatte das Ziel, jede Abweichung vom Realsozialismus als Feindhaltung zu denunzieren und gleichzeitig alle Gemeinsamkeiten zwischen NS-Diktatur und Stalinismus zuzudecken. Dieser Freund-Feind-Mythos lebte von der quasi religiösen Verarbeitung von Geschichte. Eine solche Einteilung in Gut- und Bösmenschen wurde Faktizität und Wirklichkeit, hielten sich die Diskutanten an diese Ordnung. Diese Polarisierung blieb auch nach 1989 Bedürfnis in einer Zeit, wo die Übersicht verloren wurde und wo es wichtig war, in Distanz zu den älteren Generationen zu gehen und "Linie" zu bewahren.

Die Korrektheit im politischen Denken fand ihre Wirklichkeit durch die kulturellen Umbrüche nach 1968. Nur ganz kurz signalisierten die Revolteure, daß zur Authentizität einer Generation ein Selbstbewußtsein gehörte, das in dem Wissen darüber erreicht wurde, daß jede Generation zu allen Verbrechen fähig war, wenn sie nicht selbst bemüht war, gerechte und humane Verhältnisse herzustellen. Die "Geschichte" konnte niemanden freisprechen. Aber dieses Selbstbewußtsein wich sehr bald dem Opportunismus der Selbstgerechtigkeit. Vor allem die Nazikinder, teils zu feige, sich mit ihren Vätern auseinanderzusetzen, teils unfähig, sich dem Schrecken zu stellen, gingen auf die Seite des besseren Deutschlands und identifizierten sich nun mit den Opfern ihrer Väter. Sie sprachen sich selbst frei und agierten nun außerhalb von Gesellschaft und Geschichte. Ein fanatisierter Gutmensch wurde geboren. So entstand ein säkularisierter Puritanismus, der alle Außenseiter, Abweichler, Skeptiker und Kritiker im Denken als Feinde denunzierte.

Solch eine kuriose Ideologie konnte sich vorerst nur im Intellektuellenbereich ausbreiten. Die Revolte wurde nach 1970 aufgefangen und politisiert durch die große Ideologieindustrie der DDR und ihre Parteigänger im Westen. Das konnte gelingen, weil die Parteien im Westen ideologisch weitgehend abgerüstet und sich der "Rationalität" des Aufbaus eines gerechten Sozialstaates verschrieben hatten oder mit sich selbst befaßt waren. Die Reideologisierung von Wissenschaft und Bildung konnte gelingen, weil Ökonomie und das Sozialmilieu gerade nicht mehr ideologischen Prämissen folgten. Der Gespensterkrieg alter Ideologien an Universitäten und Schulen zielte auf Weltanschauung, Verinnerlichung und Kopfbesetzungen, um Partei zu beziehen zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Die Intelligenz entschied sich damals für das vermeintlich Gute und Schöne.
Im Gegensatz zum Volk, das den Konsumidealen der Wohlstandsgesellschaft folgte, fühlten sie sich als die wahren Vertreter des Volkes. Gegen die Faktizität des Bestehenden und gegen die reine Sachlichkeit von Verwaltung und Produktion setzten sie ihre Mission, ihren Glauben und die Selbstsicherheit, für eine bessere Gesellschaft zu streiten. Dieser Glauben sollte Berge versetzen und die Gewißheit erleichtern, selbst immer auf der richtigen Seite zu stehen und nur das Gute zu wollen. Was nicht sein durfte, durfte nicht sein. Es gab keine Einwanderungsprobleme, keinen Nationalismus, keine möglichen Bürgerkriege in Zentraleuropa, basta. Aus den Studenten, die sich dieser Selbstgerechtigkeit hingaben, wurden Dozenten, Richter, Lehrer, Journalisten, Talkmaster, Stückeschreiber, kurz: Multiplikatoren eines Geschichtsglaubens und sie wirkten in den Medien, Universitäten, Schulen, so daß es dazu kam, daß bis heute der Mythos des besseren Deutschland, der multikulturellen Eintracht und der internationalen Solidarität vorherrschte. Probleme und Widersprüche gesellschaftlicher Entwicklung wurden verschwiegen oder totgeredet. Eine historische Epoche fand ihr Ende, neue Kriege und Bürgerkriege deuteten sich an, aber die vielen Meinungsmacher als Gutmenschen nahmen sie weitgehend nicht zur Kenntnis.

Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt unserer Überlegungen angelangt. Der globale Kapitalismus bleibt der große Umwälzer, Zerstörer, "Expropriateur" und Aufbauer, ohne seine immanenten Widersprüche zu lösen. Die Welt bildet zwar sein Aktionsfeld, aber seine Zentren liegen in Nordamerika und Zentraleuropa. Allerdings hat er seinen Gegner verloren: die Arbeiterklasse und das "realsozialistische" Lager. Der neue "Reformismus" folgt seiner Logik. Die wirtschaftliche Expansion trägt die Kehrseite von Verelendung und Radikalismus, nur daß jetzt primär die Paupers der "Peripherie" davon betroffen sind. Sie strömen jetzt in die Zentren der Kapitalmächte, um Ruhe und Wohlstand zu finden oder aber, um von hier aus die Welt revolutionär zu verändern. Eine reformistische oder alternative Politik wäre aufgerufen, die Elendsregionen der Welt einzubeziehen in "Entwicklung" und den Menschen in Ost- und Südosteuropa oder in den asiatischen und nordafrikanischen Grenzländern von Europa Arbeit und Auskommen zu geben. Statt dessen sollen Kriege diese Völker zähmen und wird Europa in den Strudel einer inneren Auflösung gerissen.

Autor: Bernd Rabehl, Berlin
vom 24.03.1999
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Stand: 24 Dezember 2004
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