Sarah Crossan: Eins. Rezension von Britta Kiersch

Eins. Von Sarah CrossanRezension
Sarah Crossan: Eins       Mixtvision    ISBN 978-3-95854-057-6        16,90 €

Unter Wölfen

„Ihr werdet schon nicht den Wölfen zum Fraß
vorgeworfen werden“,
sagt Mrs James, die Direktorin, und stellt uns Yasmeen vor –
eine Mitschülerin, die unsere Begleiterin sein soll,
„und Freundin…,
hoffentlich“, sagt Mrs James.

Mum und Dad wirken erleichtert,
als ob dieses Mädchen mit dem knallpinken Bob und
den dürren Handgelenken
mehr als eine Motte abwehren könnte.

„Heilige Scheiße!
Ihr zwei seid ja unglaublich!“, meinet Yasmeen,
ohne dabei angewidert zu wirken,
was meiner Meinung nach
ein ziemlich guter Start in den Tag ist.

Und was sie gesagt hat,
stimmt ja auch.

Es ist unglaublich, dass wir überlebt haben
im Mutterleib.

Unglaublich, dass wir nicht gestorben sind
bei der Geburt.
Unglaublich, dass wir es so lange geschafft haben,
sechzehn Jahre.

Aber ich will nicht unglaublich sein.
Nicht hier.

Ich will genauso langweilig sein wie jeder andere,
aber das sage ich Yasmeen nicht.
Ich lächle und Tippi sagt „Danke“
Und dann folgen wir unserer winzigen
pinkhaarigen Beschützerin durch die Korridore
in unsere Klasse.

So beginnt der erste richtige Schultag der Zwillinge Grace und Tippy – der siamisischen Zwillinge Grace und Tippi und gleichzeitig beginnt ihre Freundschaft mit Yasmeen, die sich vielleicht deshalb so unvoreingenommen auf die beiden einlassen kann, weil sie selbst vom Schicksal nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst wurde und weiß, wie es sich anfühlt ein Außenseiter zu sein.
Über Yasmeen lernen die beiden auch Jon kennen und schon bald sind die 4 eine Clique, unternehmen viel gemeinsam und führen ansatzweise ein fast normales Leben als Teenager. Grace verliebt sich in Jon, aber können die beiden eine „richtige“ Beziehung haben? Natürlich sehnt Grace sich nach körperlicher Nähe, aber ihr ist klar, dass das in ihrer Situation unmöglich scheint.
Wie Sarah Crossan die zarte Liebesgeschichte von Jon und Grace in Worte fasst, finde ich besonders schön. Gar nicht kitschig, einfach geradeheraus und warnherzig. Mit Grace ist ihr ohnehin eine ausgefallene Ich-Erzählerin gelungen, denn eigentlich ist Tippi die kommunikativere von beiden, die wesentlich offensiver die Auseinandersetzung mit der Außenwelt sucht. Grace ist zurückhaltender, ja, eigentlich verschlossen und erzählt auf eine sehr reduzierte, poetische Weise von ihrer beider Leben und der unfassbar innigen Beziehung der Mädchen zueinander.
Siamesische Zwillinge haben keine sehr hohe Lebenserwartung und es ist ungewöhnlich, dass die Tippi und Grace bereits 16 Jahre alt sind. Bei einer routinemäßigen Untersuchung stellt sich heraus, dass Grace’ Herz angegriffen ist und der behandelnde Arzt rät dringend dazu, die beiden zu trennen. Andernfalls würden ziemlich sicher sehr bald beide Mädchen sterben. Unter großen Gewissensqualen entscheiden sich Tippi und Grace für die Operation.

Was ich Dr. Murphy erzähle

„Wissen Sie,
ich habe so
verdammt lange gebraucht, alle davon zu überzeugen,
dass ich ein Individuum bin,
dass Tippi meine Zwillingsschwester ist,
wir nicht ein und dieselbe Person sind,
dass ich mir nie Gedanken gemacht habe,
wie es wäre, wenn
wir nicht zusammen wären,
dass,
sie zu verlieren, wäre,
als ob ich auf einem Scheiterhaufen läge
und darauf wartete, dass mich die Flammen verschlingen.

Sie ist kein Teil von mir.

Sie ist ganz ich
und ohne sie
würde da
eine Leerstelle in meiner Brust klaffen,
ein immer größer werdendes schwarzes Loch,
das durch
nichts anderes
gefüllt werden könnte.

In einem abschließenden Kapitel merkt die Autorin an:
„Obwohl dieser Roman ein fiktives Werk ist, basieren die Leben von Tippi und Grace, ihre Gefühle darüber, zusammengewachsen zu sein und viele nähere Einzelheiten dazu, wie die Öffentlichkeit auf sie reagiert, auf einer Verschmelzung von Geschichten echter siamesischer Zwillingspaare, sowohl noch lebender als auch bereits verstorbener.“
Der kleine Mixtvision Verlag hat mit diesem Roman (aus dem Englischen von Cordula Setsman) wieder einen niveauvollen, literarischen Text verlegt und der Autorin ist es gelungen, der Geschichte Authentizität zu verleihen, obwohl ihre Protagonistinnen ja nun wahrlich zu einer absoluten Minderheit zählen. Und gerade deshalb werde ich es mit Vergnügen empfehlen, als Entwicklungs- und Liebegeschichte! Man muss ja nicht gleich alle Karten auf den Tisch legen.

Von Britta Kiersch

Eins. Von Sarah Crossan

 

 

Erstellt: 29.03.2016 - 13:15  |  Geändert: 02.12.2020 - 17:58

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