Der Kosovo-Krieg und die Strafjustiz

Veranstaltung mit Helga und Conrad Tempel, den Erstunterzeichnern für den Aufruf zur Verweigerung am Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, 1999


Montag, 30. Oktober 2000, 20 Uhr
Buchladen Neuer Weg, Sanderstr. 23-25, 97070 Würzburg


Am 21. April 1999 haben Menschen aus der Friedensbewegung einen Aufruf an alle am Jugoslawien-Krieg beteiligte Soldaten der Bundeswehr veröffentlicht: "Eine Beteiligung an diesem Krieg ist nicht zu rechtfertigen. Verweigern Sie deshalb Ihre Einsatzbefehle! Entfernen Sie sich von der Truppe! Lehnen Sie sich auf gegen diesen Krieg!"
Gegenwärtig laufen und liefen bundesweit gegen etwa 70 KriegsgegnerInnen Verfahren wegen des Verdachts der "öffentlichen Aufforderung zu Straftaten" nach § 111 Strafgesetzbuch. Die Beschuldigten hätten zur Fahnenflucht und/oder Gehorsamsverweigerung aufgerufen. Alle Prozesse sind öffentlich und BesucherInnen sind erwünscht.

Verfahren in Berlin am Beispiel Helga und Conrad Tempel Prozeßbericht vom 27. Januar 2000 Amtsgericht Tiergarten, Berlin

Zur Atmosphäre
Es waren vier Menschen, zwei Männer und zwei Frauen im Alter zwischen 36 und 68 Jahren, angeklagt. Sie waren ohne Rechtsanwalt erschienen. Es gab ca. 30 Zuhörer. Richterin und Staatsanwalt waren sehr jung, sehr gut vorbereitet und sensibilisiert für die Brisanz des Verfahrens als Teil einer Serie von politischen Anklagen.

Zu den Hauptargumenten in der Selbstverteidigung der Angeklagten
1. Sie bekannten sich zu einer grundsätzlichen Ablehnung aller Kriege und aller militärischen Gewalt auch aufgrund und anhand ihrer Biografie sowie ihrer ethisch-religiösen Grundüberzeugung.
2. Alle Beklagten konnten nachweisen, langjährig und in vielerlei Weise auch konstruktiv für ihre Überzeugung eingetreten zu sein und aktiv für ein friedliches Zusammenleben gearbeitet zu haben.
3. Sie wiesen nach, daß unter Berufung auf die UN-Charta der Krieg völkerrechtswidrig und daher grundgesetzwidrig war, daß in der Art der Kriegsführung gegen die Genfer Konventionen verstoßen worden sei und daß daher eine Befehlsverweigerung nach Soldaten- und Wehrstrafgesetz nicht nur zulässig, sondern sogar geboten war.
4. Es wurde erklärt, sie wollten nicht Unrecht tun, sonder Unrecht verhindern und zur öffentlichen Diskussion beitragen, auch um der starken Beeinflussung für den Krieg entgegenzuwirken.
5. Der Satz »Entfernen sie sich von der Truppe« sei nur eingebettet in den argumentativen Gesamtzusammenhang und den Appell an die eigene Gewissensprüfung der Soldaten zu verstehen. Der Aufruf insgesamt sei gemeint als Aufruf zur Kriegsdienstverweigerung im akuten Kriegsfall, die zwar mit erschwerten Bedingungen aber immerhin doch möglich und gesetzlich gedeckt sei, wenn Gewissensbedenken vorlägen.
6. Sie verwahrten sich gegen die Definition des Angriffskriegs als »humanitärer Intervention« und daher völkerrechtlich erlaubt. Eine solche Umschreibung des bestehenden Völkerrechts sei noch nicht erfolgt und hätte auch wenig Aussicht auf Erfolg. Auch derartige Interventionen hätten im übrigen die Genfer Konventionen zu beachten, was eindeutig und unumstritten nicht der Fall gewesen sei.
7. Sie betonten und boten Beweise dafür an, daß dieser Krieg von langer Hand geplant sei und ganz anderen Interssen dienen sollte, dem globalen Anspruch der USA als Weltpolizei auch ohne UN-Mandat sowie der Verwirklichung der neuen NATO-Doktrin.

Urteil:
Freispruch auf Kosten der Staatskasse für die beiden pensionierten Pädagogen und eine Rentnerin. Der vierte Angeklagte wurde zu insgesamt 70 Tagessätzen je 30 DM = 2100 DM verurteilt.

Begründung für den Freispruch:
Der objektive Tatbestand (Aufforderung zu Straftaten) sei erfüllt, der subjektive Tatbestand nicht. Würdigung der Motivation und der Einlassungen der Beklagten, die nur zur Gewissenprüfung aufrufen wollten.
Die Einschätzung der Rechtslage hinsichtlich des Krieges sei zumindest umstritten, es gäbe Anzeichen und Stimmen, die für eine Völkerrechtswidrigkeit sprächen. Klar gäbe es in einer solchen Situation nicht nur das Recht, sondern sogar auch die Pflicht zur Kriegsdienstverweigerung und Befehlsverweigerung. Davon konnten die Beklagten ausgehen. Die Meinungsfreiheit sei zwar ein sehr hohes Gut in einer Demokratie, aber eingeschränkt hinsichtlich der Aufforderung zu Straftaten. Deshalb könne der Freispruch nicht eindeutig hieraus abgeleitet werden. 
Zu bedenken sei, daß die Situation des Kosovo-Krieges eine völlig unvorhersehbare, von den Militärs bisher so nicht ins Auge gefaßte Situation darstellte, die auch neue Reaktionen und Antworten erforderlich machte. Insofern seien die Angeklagten auch in einer besonderen Lage ohne klare Orientierungspunkte gewesen (sinngemäß!) und hätten sich in einer emotional aufgeladenen Atmosphäre befunden und entsprechend ihrer Biographie und inneren Grundeinstellung verhalten müssen. 
Der vierte Angeklagte sei zu verurteilen, da er entschiedener als die übrigen Angeklagten den Standpunkt vertreten habe, bewußt auch zur Desertion, nach gründlicher Gewissensprüfung, der Soldaten aufzurufen, was er bei einer nachfassenden Aktion in einem Begleitbrief auch so formuliert hat. 
Bisher mussten sich 40 UnterzeichnerInnen in der 1. Instanz vor Gericht verantworten. 32 KriegsgegnerInnen wurden freigesprochen, 7 wurden verurteilt, und in einem Fall wurde das Verfahren gegen Zahlung eines Bußgeldes eingestellt. Die Staatsanwaltschaft hat gegen alle Freispüche Berufung eingelegt bzw. hat angekündigt, dies zu tun. Die Verurteilten haben bzw. werden ebenfalls Rechtsmittel einlegen. Die Berufungsverhandlungen finden vor dem Landgericht (LG), Berlin-Tiergarten, Turmstr. 91, statt. 
Bisher fanden vor dem Landgericht (LG) 7 Berufungsverhandlungen statt. 6 davon endeten mit einem Freispruch, einer mit einer Verurteilung. 

Folgende Berufungsverhandlungen finden noch statt:
06.09.2000 (LG) 1. Verhandlungstag
13.09.2000 (LG) 2. Verhandlungstag

Helga und Conrad Tempel; Hermann Theisen, Sonja Tesch


Veranstalter: Würzburger Friedensbündnis, Buchladen Neuer Weg


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Stand: 04. Februar 2006
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