Kreta, 1943
Andreas hielt an einem niedrigen Torbogen im
Mauerwerk und stellte den Motor aus. "Wir sind da", sagte er. "Das Kloster Moni
Arkadi." "Sieht eher wie eine Festung aus", bemerkte Johann. Andreas nickte.
"Das war es auch einmal. Eine Festung und eine Todesfalle."
Ein junger Mönch erschien im Torbogen und begrüßte sie. Andreas erklärte ihm,
daß man mit dem Abt sprechen müsse. Der sei unterwegs in den Hügeln und kümmere
sich um die Bienenstöcke, sagte der Mönch, der sie in einen Innenhof führte, in
dem ein Gewürzgarten angelegt war. Bienen summten, Schmetterlinge taumelten
durch die stark duftenden, blühenden Krauter und Stauden. Sie setzten sich auf
eine niedrige Begrenzungsmauer vor die Beete. Der Mönch verschwand im
Refektorium, kam nach einer Weile mit einem Tonkrug voll Wasser, Feigen und
Äpfeln zurück und ließ Andreas und Johann wieder allein. Während sie aßen und
tranken, sah Johann eine kleine Schildkröte zwischen den Kräuterpflanzen
kriechen. Ihr gelber Panzer mit schwarzen Mustern schob sich wie in Zeitlupe
durchs sonnenfleckige Grün.
Zwei andere Mönche kamen eine Treppe herunter. Auch sie trugen lange, schwarze
Gewänder, hohe Mützen und Vollbärte. Sie überquerten schweigend den Hof, nickten
Andreas und Johann lächelnd zu. In ihrem Gang schwang ein undefinierbarer
Rhythmus, von Hast genauso weit entfernt wie von Langsamkeit, ein Gehen, das
zugleich wie ein Innehalten war. Sie verschwanden in der Kirchentür, aber nicht,
wie sonst Menschen ein Haus betreten, sondern wie Tiere, die huschend hinter
Bäumen unsichtbar werden, wenn man sie im Wald beobachtet, oder wie ein vorbeigleitendes Segel, vor dessen Anblick sich plötzlich ein Felsen schiebt.
Das Geisterhafte dieses Auftritts berührte Johann wie die Erinnerung an etwas
längst Vergessenes, beunruhigte ihn aber auch, weil es ihm wie ein Vorzeichen
für etwas ganz und gar Unfaßbares erschien, das dingfest zu machen, zu
katalogisieren und damit der Vernichtung auszuliefern seine Aufgabe war.
Schon wollte er die unheimliche Stille dieses Hofs brechen und Andreas fragen,
was er mit seiner Bemerkung gemeint habe, das Kloster sei eine Todesfalle
gewesen, als in der Kirche Stimmen halblaut zu singen begannen, Psalmen nach
uralter Melodik. Die Stimmen hoben und senkten sich, es klang etwas
Gleichgültiges und zugleich Begeistertes in ihnen mit, von Klage so endlos
entfernt wie von Lust, auch etwas Feierliches, das aus dem Vergangenen kam wie
aus einem lichtlosen Brunnen, die Gegenwart für einen Augenblick erfüllte und in
dem verhallte, was kommen mußte. Über dem Hof aus einem offenen Fenster sang
eine Frauenstimme die Melodie nach und verstummte. Das war so unerhört, daß es
Johann wie eine Einbildung vorkam, aber es setzte erneut ein, und es war eine
weibliche Stimme, die Stimme, das hörte er plötzlich sehr klar, Ingrids. Und
doch wieder nicht. Das Echohafte, das sich dem Singen in der Kirche anschmiegte
wie der Lichthof einer Kerzenflamme, hatte etwas Willenloses, Bewußtloses, fast
Jenseitiges. Die Stimme verstummte. Ingrid war tot, verschüttet im Keller von
Johanns Lübecker Elternhaus, das wie Zunder gebrannt hatte beim Angriff des
britischen Geschwaders. Und in diesem kretischen Klosterhof sang nun irgendeine
weibliche Stimme ihr Requiem. Aus der Kirche drang mit den dunklen,
tremolierenden Männerstimmen ein Duft von Wachs, Honig und Weihrauch, der wie
der Geruch des Gesangs war und eine Geste, näher zu treten.
Johann stand auf, ging zur Kirchentür, die einen Spalt offenstand, und blickte
ins Innere. Im Dämmer knieten ein Dutzend Mönche auf dem Steinboden. Die ewigen
Lichter schwangen rötlich schimmernd in der von Weihrauch und Honig schweren
Luft. Der sonore Gesang war auch eine Besänftigung, eine Bändigung von Wut und
Gewalt in harmonische Gelassenheit. Hier ging etwas vor sich, was sich seit mehr
als tausend Jahren am gleichen Ort und zur gleichen Stunde vollzog. Welcher Bach
floß tausend Jahre durchs gleiche Bett? Welcher Baum streckte tausend Jahre sein
Blattwerk zur Sonne? Die absurde Vermessenheit, mit der in Deutschland von einem
tausendjährigen Reich gebrüllt wurde! Der Gedanke daran war wie ein Faustschlag
ins Gesicht.
Als die Mönche schon das Kirchenschiff durch einen Seiteneingang verlassen
hatten, stand Johann immer noch wie benommen, starrte zu den Halbsäulen und
Gesimsen empor, zu den horizontalen und vertikalen Abschnitten, und kam mit
solchen Begriffen wieder zu sich. Geschäftsmäßig registrierte er das
hervorragende Beispiel kreto-venezianischer Renaissance, ging durchs Nordschiff,
durchs Südschiff, fotografierte und katalogisierte zahlreiche Ikonen, die aber
alle aus dem 20. Jahrhundert stammen mußten und von geringem Wert waren, und
auch die Ikonostase aus Zypressenholz war neu. Ob man hier vielleicht irgendwo
alte Ikonen verborgen hielt? In Sicherheit gebracht vor den Deutschen? Versteckt
vor Johann und seiner Liste? Und wo war der Abt? Kümmerte sich um Bienenstöcke?
Als Abt? Der junge Mönch, der sie vorhin begrüßt hatte, schien sie erwartet zu
haben, obwohl Johann seine Ankunft niemandem mitgeteilt hatte, niemandem außer
Andreas. Wenn man im Kloster auf ihr Kommen vorbereitet gewesen war,
hatte dann Andreas die Mönche gewarnt?
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